14. Dezember 1972: Willy Brandt erneut zum Kanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt

„Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts.“ Bundeskanzler Willy Brandt am 3. November 1981.

Am 14. Dezember 1972 wurde Willy Brandt (Politiker, SPD) erneut* zum Kanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Willy Brandt steht wie kein anderer für Frieden. Seine Worte dürften aktueller denn je klingen: „Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts.“ Brandt ist gebürtiger Schleswig-Holsteiner (Lübeck), Grund genug uns mit seiner Zeit in Lübeck zu beschäftigen.

Willy Brandt war von 1969 bis 1974 als Regierungschef einer sozialliberalen Koalition von SPD und FDP der vierte Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Zuvor hatte er von 1966 bis 1969 während der ersten Großen Koalition im Kabinett Kiesinger das Amt des Außenministers und Vizekanzlers ausgeübt. Vom 3. Oktober 1957 bis zu seinem Eintritt in die Bundesregierung am 1. Dezember 1966 war er Regierender Bürgermeister von Berlin.

Von 1964 bis 1987 war Brandt SPD-Parteivorsitzender und von 1976 bis 1992 Präsident der Sozialistischen Internationale. Er stirbt am 8. Oktober 1992 in Unkel (RPF).

Lübecker Zeit

Blicken wir zurück auf Brands Lübecker Zeit, die bis März 1933 dauerte: Willy Brandt wurde als Herbert Frahm am 18. Dezember 1913 in der Lübecker Vorstadt St. Lorenz-Süd geboren. Brandts Geburt war unehelich.[1] Seine Mutter war Martha Frahm, geb. Ewert (1894–1969), eine Verkäuferin im Lübecker Konsumverein. Brandts Vater war der Hamburger Lehrer John Heinrich Möller (1887–1958),[Quelle] der 1912 und 1913 vorübergehend an einer Realschule in Lübeck unterrichtete.

Martha Frahm nannte den Namen des Kindsvaters nicht, als die Geburt ihres Sohnes Herbert beim Standesamt eingetragen wurde. Am 26. Februar 1914 ließ Martha Frahm ihren Sohn im Pastorat II der evangelischen Kirche St. Lorenz in Lübeck taufen; die Taufe in der Gemeindekirche wurde nichtehelich geborenen Kindern nicht zugestanden.

Brandt lernte seinen leiblichen Vater nie persönlich kennen, obwohl er seit 1947 dessen Identität kannte.[2] Zu seiner Mutter, die als überfordert beschrieben wird, hatte Brandt von Kindheit an ein distanziertes, unterkühltes Verhältnis. Rückblickend nannte er sie „die Frau, die meine Mutter war“.[3]

Brandt wuchs anfänglich im Haushalt seiner Mutter auf, die berufstätig war und ihn wochentags von einer Nachbarin versorgen ließ. Ab 1919 übernahm Brandts Stiefgroßvater Ludwig Frahm (1875–1935) die Betreuung des Kindes. Frahm hatte 1899 Martha Ewerts Mutter Wilhelmine geheiratet und baute nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg schnell ein enges Vertrauensverhältnis zu dem fünfjährigen Brandt auf.

Er nahm ihn in seinen Haushalt auf und behielt ihn während der 1920er Jahre in seiner Obhut, auch nachdem er nach dem Tod Wilhelmines eine neue Ehe mit Dorothea Stahlmann, der von Brandt wenig geliebten „Tante Dora“, eingegangen war.

Willy Brandt nannte seinen Stiefgroßvater „Papa“. In seinem Abiturzeugnis wurde Ludwig Frahm als Vater genannt.[4] Im September 1927 heiratete Brandts Mutter den Polier Emil Kuhlmann, im Februar 1928 kam Brandts Halbbruder Günther Kuhlmann zur Welt. Seit dieser Zeit sah Brandt seine Mutter „nur noch sporadisch“.[5] Rückblickend bezeichnete Brandt seine Jugend als „unbehaust“[2]und beschrieb seine Familienverhältnisse als chaotisch.[5]

Brandts nichteheliche Geburt, die von Zeitgenossen vielfach als Makel angesehen wurde, benutzten politische Gegner noch in der Zeit der Bundesrepublik, um ihn herabzusetzen. Er wehrte sich nicht dagegen, doch bekannte er, „Herkunft und üble Nachrede“ hätten ihm einen „Stachel eingepflanzt“.[2] Noch im Bundestagswahlkampf 1965, in dem Brandt für die SPD gegen den CDU-Kandidaten Ludwig Erhard antrat, wurde dieser Umstand thematisiert.

Schule und Ausbildung

Brandt besuchte die St.-Lorenz-Knaben-Mittelschule, ab 1927 die v. Großheim’sche Realschule und wechselte 1928 zum Johanneum zu Lübeck,[1] an dem er 1932 sein Abitur ablegte. Im Antrag auf Zulassung zum Abitur nannte er Journalist als Berufswunsch. Die SPD stellte Brandt zunächst ein Parteistipendium für ein Hochschulstudium in Aussicht, bis er sich von ihr im Streit getrennt hatte. Stattdessen begann er im Mai 1932 ein Volontariat bei der Schiffsmaklerfirma, Reederei und Spedition F. H. Bertling KG in Lübeck.

Politische Betätigung in der Weimarer Republik

Brandts Interesse für Politik ist auf seinen Stiefgroßvater Ludwig Frahm zurückzuführen. Frahm gehörte der SPD an, war zeitweise Vertrauensmann seiner Partei im Lübecker Stadtbezirk Holstentor-Süd und kandidierte 1926 und 1929 auf der SPD-Liste für die Lübecker Bürgerschaft.[6] Brandt wurde 1925

Mitglied der Kinderfreunde, einer Kindergruppe der Falken, ab April 1929 der Sozialistischen Arbeiter-Jugend (SAJ), in der er als Mitglied der Lübecker Gruppe Karl Marx mit Unterstützung Julius Lebers einen radikalen Kurs vertrat. 1931 wurde Brandt Bezirksvorsitzender der SAJ für die Region Lübeck-Mecklenburg.

In diesem Umfeld betätigte sich Brandt seit 1927 regelmäßig publizistisch. Der Lübecker Volksbote, die örtliche SPD-Zeitung, die von Julius Leber redigiert wurde, druckte im Februar 1927 einen Aufsatz Brandts mit zwei Zeichnungen über eine Tageswanderung des Schülers mit Freunden zur Travequelle ab.

Ab 1928 veröffentlichte Brandt Texte zu politischen Themen. Leber unterstützte Brandt und förderte zugleich sein politisches Engagement. Brandt erklärte später, Leber habe ihn in diesen Jahren entscheidend beeinflusst. Unter seiner Journalistentätigkeit litten die schulischen Leistungen. Ein Lehrer seiner Schule riet seiner Mutter im Jahr 1930: „Halten Sie Ihren Sohn von der Politik fern. Der Junge hat gute Anlagen. Aber die Politik wird ihn ruinieren“.[7]

1930 trat Brandt der SPD bei. Ein Jahr später, im Oktober 1931 brach er mit Leber und der SPD und warf der Partei – enttäuscht von ihrer Tolerierungspolitik gegenüber den Maßnahmen der konservativen Regierung des Reichskanzlers Heinrich Brüning – „Mutlosigkeit“ im Hinblick auf gesellschaftliche Veränderungen vor. Brandt schloss sich daraufhin der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) an.

Diese hatte sich aus einer im Herbst 1931 von der SPD-Reichstagsfraktion abgespaltenen linkssozialistischenGruppe zusammen mit anderen zwischen SPD und KPD positionierten Organisationen wie zum Beispiel der Rest-USPD um Theodor Liebknecht oder Ledebours Sozialistischem Bund als Partei der 

Einheitsfront konstituiert, um gegen die seit Beginn der Weltwirtschaftskrise verstärkte – in der Harzburger Front um NSDAP und DNVP verbündete – antidemokratische Rechte anzugehen. Brandt war Gründungs- und Vorstandsmitglied des Lübecker Ortsverbands der SAPD und übernahm in der Folgezeit auch zahlreiche organisatorische Aufgaben für die Gesamtpartei.

Untergrund und Exil während der NS-Diktatur

Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler Ende Januar 1933 und damit dem Beginn der NS-Diktatur in Deutschland wurde die SAPD verboten. Die Partei beschloss, unter den Bedingungen der Illegalität aus dem Untergrund im Widerstand gegen die Herrschaft des Nationalsozialismus weiterzuarbeiten.

Willy Brandt erhielt im März 1933 den Auftrag, die Ausreise des SAPD-Leitungsmitglieds Paul Frölich nach Oslo zu organisieren. Frölich wurde jedoch festgenommen, sodass Brandt dessen Aufgabe übernahm, in Oslo eine Zelle der Organisation aufzubauen. In dieser Zeit nahm er, der bis dahin noch unter seinem Geburtsnamen Herbert Frahm bekannt war, den „Kampfnamen“ Willy Brandt an, den er über sein weiteres Leben hinweg beibehielt.

Emigration oder Flucht?

Willy Brandt, der damals noch Herbert Frahm hieß, emigrierte am 3. April 1933 über Dänemark nach Norwegen. Im Hause von Johannes Johannsen, in Lübeck-Travemünde, in der Jahrmarktstraße 4, wird die Fahrt von Frahm alias Brandt nach Lolleland / DK beschlossen. Der damals noch 19jährige geht abends in Travemünde an Bord eines Fischkutters. An Bord erwartet ihn der Travemünder Fischer Paul Stooß.

In dem Buch von  Martin Wein „Willy Brandt. Das Werden eines Staatsmannes“ (Berlin 2003) heißt es: „Zwei ins Vertrauen gezogene Genossen, Emil Peters und Herrmann, stellten Kontakte zum Travemünder Fischer und Sozialdemokraten Johannes Johannsen her. Mit dessen Motorkutter TRA 10 fuhr, kaum kontrolliert, der 36jährige Stiefsohn Paul Stooß, ebenfalls ein Linker, jede Nacht zum Fang auf die Ostsee hinaus Richtung Dänemark… Bootseigner Johannsen informiert Stiefsohn Stooß, dass er bei Nacht ‚einen von Lübeck, hinter dem sie her sind‘, nach Dänemark bringen soll: ‚Lass niemand in die Kajüte sehen. Mehr brauchst du nicht zu wissen.`“ [Quelle]

Brand führt lediglich eine Aktentasche bei sich, in der finden sich Unterwäsche, Rasierzeug, Hemden und der erste Band des „Kapitals“ von Karl Marx. Außerdem hat ihm sein Großvater noch 100 Mark zugesteckt.

Der sozialdemokratische Fischer verbirgt ihn unter Tauwerk und leeren Kisten, sodass der Zollbeamte ihn bei seiner nächtlichen Kontrolle nicht entdeckt. Die Überfahrt wird stürmisch. Wellen, Regen und Kälte setzen dem 19-jährigen Brandt zu. Gegen halb sechs Uhr morgens geht er in Rödbyhavn an Land, stärkt sich mit Kaffee und Aquavit. (Quelle)

Ausflugstipp: An der Häuserwand in in der Jahrmarktstraße 4, in Lübeck-Travemünde erinnert heute eine Informationstafel an Willy Brandts Flucht nach Dänemark und seinen Fluchthelfer, den Fischer Paul Stooß.

Parteiarbeit in Oslo

Über Kopenhagen reist Brandt weiter nach Oslo, wo er bald einen Parteistützpunkt aufbaut, der die Genossen in Deutschland mit Informationen und Material versorgt. Im August 1940 wird ihm von der Botschaft in Stockholm die norwegische Staatsbürgerschaft bestätigt. Bis zum Ende des 2. Weltkrieges blieb er, mit diversen Ausnahmen (die hier jetzt nicht beschrieben werden), in Stockholm.

Rückkehr nach Deutschland

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte Brandt im Mai 1945 als Korrespondent für skandinavische Zeitungen nach Deutschland zurück und berichtete über die Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg. Nachdem er am 20. Mai 1946 mit einer Rede in Lübeck über Deutschland und die Welt Zustimmung der dortigen Sozialdemokraten erfahren hatte, stand im Sommer 1946 nach einem Gespräch mit Theodor Steltzer Brandts Rückkehr nach Lübeck zur Diskussion.

Er sollte als Nachfolger von Otto Passarge Bürgermeister von Lübeck werden. Nachdem ihm der norwegische Außenminister Halvard Lange vorgeschlagen hatte, als Presseattaché an die Norwegische Militärmission nach Berlin zu gehen und der norwegischen Regierung aus der Stadt vom beginnenden Kalten

Krieg zu berichten, entschied er sich gegen seine Geburtsstadt, denn „Lübeck kam mir ein wenig eng vor“, nach seinen internationalen Erfahrungen seit der Emigration.[8] Seiner Geburtsstadt blieb Brandt jedoch eng verbunden. So schloss er Wahlkämpfe bis hin zu Kommunalwahlkämpfen stets am Vortag der Wahl mit einer Kundgebung in Lübeck ab.

Am 1. Juli 1948 erhielt er von der schleswig-holsteinischen Landesregierung mit Wirkung vom 24. September 1948 wieder die deutsche Staatsbürgerschaft.

Den Decknamen Willy Brandt, den er sich 1934 zugelegt hatte, nutzte er ab 1947 dauerhaft. Auf seinen Antrag hin genehmigte 1949 der Polizeipräsident in Berlin die Änderung seines Namens in Willy Brandt.[Quelle] 

Brandt selbst sprach 1961 von einem Allerweltsnamen, den er gewählt habe, allerdings bestand in Lübeck, als er dort sein Volontariat absolvierte, eine Schiffsausrüsterfirma William Brandt Wwe.[9]

Willy-Brandt-Haus Lübeck

Zu Ehren und Gedanken an Willy Brandt wurde am 18. Dezember 2007, seinem 94. Geburtstag, das Willy-Brandt-Haus in seiner Geburtsstadt Lübeck, in der Königstraße 21, eröffnet. Ein Besuch lohnt sich:

Sie erreichen das Gebäude vom Hauptbahnhof mit den Buslinien 10, 11, 21, 31 und 39, von der Stadthalle mit der Buslinie 4, Haltestelle „Katharineum“ (50 m Fußweg), und vom Burgtor mit allen Linien (Ausnahme: Linie 10), Haltestelle „Koberg“ (100 m Fußweg).

Direkt am Haus bestehen keine Parkmöglichkeiten. Empfehlen sei bei Anreise mit dem Auto die öffentlichen Parkplätze an der Kanalstraße zu nutzen (500 m Fußweg). Über Öffnungszeiten und aktuelle Veranstaltungen informiere man sich bitte auf der Website des Willy-Brandt-Hauses.

Quellen / Weiterführende Informationen

* Übrigens: Brands erste Wahl zum vierten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland (damals noch BRD) fand im Deutschen Bundestag am 21. Oktober 1969 statt 

(1) Hans-Joachim Noack: Willy Brandt. Ein Leben, ein Jahrhundert. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2013, S. 27

(2)  Willy Brandt: Erinnerungen. Ullstein-Taschenbuchausgabe, List, 2013, S. 85 ff.

(3) Hans-Joachim Noack: Willy Brandt. Ein Leben, ein Jahrhundert. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2013, S. 18, 20 f.

(4) Martin Wein: Willy Brandt – Das Werden eines Staatsmannes. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2003.

(5) Peter Merseburger: Willy Brandt, 1913–1992. Visionär und Realist. Stuttgart 2002, ISBN 3-423-34097-5, S. 16.

(6) Hans-Joachim Noack: Willy Brandt. Ein Leben, ein Jahrhundert. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2013, ISBN 978-3-87134-645-3, S. 25, 33 f.

(7) Hans-Joachim Noack: Willy Brandt. Ein Leben, ein Jahrhundert. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2013, ISBN 978-3-87134-645-3, S. 33.

(8) Willy Brandt: Erinnerungen, erweiterte Ullstein-Taschenbuchausgabe 1992, S. 148.

(9) Martin Wein: Willy Brandt – das Werden eines Staatsmannes, S. 86.

Beitragsbild (gemeinfrei): Kennedy und Brandt am 13. März 1961 in Washington. Bundesarchiv, B 145 Bild-F057884-0009 / Engelbert Reineke / CC-BY-SA 3.0

Autor: Willi Schewski

Fotograf. Blogger. Autor. Fotojournalist

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