Es ist kalt, es ist windig, es ist ein böser Ort, ein Tat-ort, der einen buchstäblich mehrfach frieren lässt: Die Aussichtsplattform an der Straße Am Schloßwall, im Flensburger Stadtteil Duburg. Hier, am Karfreitag (02. April 2021) gegen 18.15 Uhr, stach ein 19-jähriger* auf einen 16-jährigen ein. Dieser starb wenig später im Krankenhaus.
Die durchgeführte Obduktion bestätigte, „dass der Messerstich im Kopfbereich des 16-Jährigen `todesursächlich` war.“ Soweit die offizielle Polizeimeldung.
Am Tatort, am Ostermontag-Nachmittag, weilen junge Leute, ein TV-Team interviewt einen dieser jungen Leute. Dort, wo der 16-jährige Mensch zu Tode kam, liegen Beileidsbekundungen, Blumen, Trauerkerzen vor der besprühten Mauer und ein in Plastik-Schutzhülle gelegter Zettel mit diesen Worten:
„es ist nie der richtige Zeitpunkt,
es ist nie der richtige Tag,
es ist nie alles gesagt,
es ist immer zu früh,
…“
Es ist der sechste Mensch, der innerhalb der letzten vier Jahre in Flensburg zu Tode kam, durch ein Verbrechen. Alle auf die gleiche Weise: erstochen. Augenzeugen hätten, wie in der Medien zu lesen, von einer schrecklichen Szene berichtet: Auf der Aussichtsplattform an der Duborg-Schule am Schloßwall.
Alles eine „Frage der Erziehung“?
Und immer wieder stellen Menschen die gleiche Frage, warum? Was treibt einen jungen Menschen an zu töten? Legt hier eine gestörte Persönlichkeitsentwicklung vor?
Mögliche Antworten könnte der psychiatrische Kinder- und Jugendtherapeut Christian Lüdke geben. Bei FOCUS Online sagt er, dass jugendliche Täter „eine langjährige, gestörte Persönlichkeitsentwicklung hinter sich haben. „
Kein Mensch würde „über Nacht zum Mörder, auch kein 14-jähriger Schüler.“Niemand käme „böse auf die Welt.“ Vielmehr erlebten diese Jugendliche „einen Prozess erlernter Hilflosigkeit. Sie können weder mit Konflikten noch mit den eigenen Gefühlen umgehen.„
Lüdke:
„In gewisser Weise sammelt sich hier ein gehöriges Potenzial krimineller Energie an. Das Töten stellt für junge Täter eine ganz primitive Form der Konfliktbewältigung dar.
Auf die Frage, wie es dazu kommt, dass Jugendliche bei Frust ausrasten, sagt er, dass dieses eine „Frage der Erziehung“ sei.
Die Jugendlichen bekämen „bereits in der frühen Kindheit eine Grundierung. Wie gehen die Eltern miteinander um? Wie gestaltet sich die Rolle des Kindes in der Familie?
Wenn solche Jugendliche nie das Gefühl haben, als Person wahrgenommen zu werden, dann wähnen sie sich im Abseits. Dabei will natürlich jeder auch mal im Mittelpunkt stehen.
Manchem dieser jungen Menschen ist jedes Mittel recht, diesen Status zu verändern. Deshalb ist ein solcher ungeheuerlicher Gewaltausbruch der Versuch die innere Ohnmacht in ein kurzzeitiges Erleben von Allmacht zu verwandeln.
Frei nach dem Motto: Ich habe Macht, ich habe die Kontrolle und ich bestimme, was jetzt geschieht.„
Andererseits: „Ein Jugendlicher, der sich bedingungslos geliebt fühlt, würde nie eine solche Tat begehen. Das ist eine ganz wichtige Grunderfahrung, die Jungen und Mädchen machen. Dieser Faktor bietet einen ganz starken emotionalen Rückhalt. Da ist es dann egal, was im Leben geschieht, da kann man Liebeskummer haben, Freundschaften können zu Ende gehen, dennoch werde ich deshalb nicht zum Mörder.“
Das Messer als Statussymbol?
Auf die Frage, warum Jugendliche und junge Erwachsene Messer bei sich tragen, antwortet Lüdke, dass Messer Tötungsinstrumente seien und wer solch eine Waffe in die Tasche steckt, sei auch bereit sie im Ernstfall einzusetzen.
Lüdke: „Inzwischen stellen diese Dinger für viele männliche Jugendliche ein Statussymbol dar. Die Waffe soll Stärke und Macht ausdrücken. In der Männerforschung würde man sagen, das Messer ist eine in Stahl gegossene Dauer-Erektion mit tödlichen Folgen.„
Jugendliche Mörder – Einzelfälle?!
Nicht jeder im Elternhaus nicht geliebte und mit Gewalterfahrungen aufgewachsene Jugendliche wird automatisch zum Mörder. Insuffizienzgefühle können sich auch in Drogenkonsum, Süchte, Alkoholprobleme, Depressionen und körperliche, psychosomatische Erkrankungen ausdrücken.
Auch in der Vergangenheit war es leider so, dass Kinder und Jugendliche getötet haben. Das seien „schreckliche Einzelfälle“, sagt Christian Lüdke. Denn die meisten jungen Leute seien „ganz wunderbar unterwegs“. (Quelle)
Es gibt diverse positive Trends (deutlicher Rückgang der Jugendkriminalität z.B.) bzw. Belege dafür, dass die aktuelle Situation der Kinder und Jugendlichen in Deutschland nicht katastrophal ist. Zwischen 2007 und 2015 hat sich die Jugendgewalt halbiert (Quelle: Prof. Pfeiffer https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/studie-jugendkriminalitaet-in-deutschland-stark-zurueckgegangen-15371908.html)
Kindesmisshandlung als Hauptursache für Verbrechen
Es gibt nichts zu entschuldigen, diese Tat ist ein schweres Verbrechen und jede/r fragt sich: wie konnte es dazu kommen? Hierzu ein wenig Hintergrundwissen über Ursachen von Verbrechen und eine These:
Wäre der Tatverdächtige 19-jährige als Kind geliebt, geachtet und mit Empathie umsorgt worden, wäre er nicht auf die Idee gekommen, ein Messer in die Hand zu nehmen und einen 16-jährigen zu erstechen. Wer als Kind geliebt wird, verfügt über Empathie, wer tötet, handelt nicht emphatisch, er handelt blind, er handelt tödlich.
Nein, nichts in aller Welt lässt dieses Verbrechen damit entschuldigen, aber vielleicht erklären. Denn: Kindesmisshandlung ist eine der Hauptursachen dafür, das Menschen zu Verbrechern werden.
Um vorweg mit einem in der Bevölkerung herrschenden Missverständnis aufzuräumen: NEIN, nicht jeder Mensch, der ungünstige Kindheitserfahrungen (1), sogenannte ACEs (Adverse Childhood Experiences) erlebt, wird automatisch zum/r Verbrecher-/in. Weitere Belastungen wie Drogen, Alkohol, schwere Kränkungen/Mobbingerfahrungenen spielen eine negative Rolle.
Auch Kriegstrauma, religiöse Indoktrinierung und Gehirnwäsche von Kindern zu Kindersoldaten und Terroristen belasten Bieografien. Und nicht zuletzt die Transgenerationale Weitergabe von Traumata aus vergangenen Generationen kann sich negativ auswirken. (2)
Gewalt im Elternhaus als Ursache
Generell belegen diverse Studien, dass Gewalt im Elternhaus nachweislich das Risiko eines Kindes steigert, später selbst gewalttätig zu werden. Diese Kinder haben „eine stärkere Zustimmung zu Gewalt legitimierenden Männlichkeitsnormen“, bei ihnen ist die „Selbstkontrolle schlechter ausgebildet“ und sie weisen schlechtere Schulleistungen auf, so der „Erste Deutsche Forschungsbericht zu Jugendlichen in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt“.
Nichtdeutsche Jugendliche stechen dabei deutlich hervor: Sie werden häufiger Opfer von elterlicher Gewalt, sind schlechter in das Bildungssystem integriert und ihre Familien sind häufiger von staatlichen Leistungen abhängig als Deutsche.
Was sagt die Kriminal-Statistik?
In den letzten zehn Jahren haben sich die Fälle krimineller Jugendlicher zwar fast halbiert und die Zahl der Intensivtäter ist beinahe schon verschwindend gering. Das liegt dem Trend zugrunde, dass Kinder vermehrt gewaltfrei erzogen werden und in unserer Gesellschaft setzt sich zunehmend ein Klima der Anti-Gewalt durch.
Was aber nicht vergessen werden darf: Durch den demografischen Wandel gibt es immer weniger Jugendliche. Die positiven Zahlen täuschen daher ein wenig, es wäre falsch, sich auf den positiven Zahlen auszuruhen.
Zahlen, die bedrücken:
Laut PKS sind im Jahr 2020 152 Kinder gewaltsam zu Tode gekommen. 115 von ihnen waren zum Zeitpunkt des Todes jünger als sechs Jahre. In 134 Fällen erfolgte ein Tötungsversuch. Mit 4.918 Fällen von Misshandlungen Schutzbefohlener wurde eine Zunahme um 10 % im Vergleich zum Vorjahr registriert.
Michael Tsokos, Rechtsmediziner und Co-Autor des Buches „Deutschland misshandelt seine Kinder“ berichtet:
„Jede Woche sterben drei Kinder in Deutschland. Nicht weil sie von einem Auto überfahren wurden oder im Pool ertrinken, sondern weil sie in ihrer Familie Gewalt erlebt haben. Misshandlung ist die häufigste Todesursache von Säuglingen in Deutschland, keine einzelne Erkrankung tötet mehr Babys.
Die Leute wollen sich damit nicht so gerne beschäftigen, manchmal habe ich das Gefühl, sie sehen und hören lieber weg, wenn in der Nachbarschaft ein Kind schreit.“ (Quelle: SZ)
Weiteres Zitat: „Prügel sind zweifellos ein bewährtes Mittel, um den kindlichen Willen zu kontrollieren und Gehorsam zu erzwingen. Aber Kindesmisshandlung ist gleichzeitig die sicherste Methode, um Gewalttätigkeit – von Körperverletzung über Mord und Totschlag bis hin zu Bürgerkriegen und Krieg – von einer Generation zur nächsten zu `vererben`.“
(Michael Tsokos und Saskia Gudda – Rechtsmediziner aus dem Buch „Deutschland misshandelt seine Kinder„)
Was folgt daraus – und was ist zu tun?
Wir als Gesamt-Gesellschaft stehen in der Verantwortung, mehr Schutz für unsere Kinder vor seelischer, physischer, und sexueller Gewalt und emotionaler Vernachlässigung zu gewährleisten. Denn: Kinderschutz ist die beste Prävention.
Zum Thema emotionale Vernachlässigung ist im Juni 2022 eine Studie erschienen: „Emotionale Vernachlässigung in der Kindheit und Gewaltbereitschaft“ (2). Dort heißt es: Kinder und Jugendliche, die emotional vernachlässigt wurden, neigen zu negativen Persönlichkeitsmerkmalen wie Narzissmus und Psychopathie. Das fanden Leipziger Forscher heraus, die Forderungen an die Politik formulieren.
Präventionsmaßnahmen oft zu kurzfristig angelegt
Für die Forschenden zeigen die Studienergebnisse deutlich den Bedarf nach einem Ausbau von Präventionsmaßnahmen gegen Gewalt und einer Fokussierung auf eine gewaltfreie Erziehung bei Kindern. Gleichzeitig kritisieren sie, dass sehr viel Geld für Sicherheit und jüngst in Militär investiert wird – dabei allerdings vergessen werde, dass der Nährboden für Gewalt in der frühen Sozialisation liege.
„Wir bekommen die Grausamkeit und Gewalt auf dieser Welt nur in den Griff, wenn wir dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche liebevoll und ohne verbale, physische und sexuelle Gewalt aufwachsen„, wird Alexander Yendell zitiert.
Ein weiteres Problem sei auch, dass wichtige Projekte zur Gewaltprävention im Kindes- und Jugendalter zu kurzfristig angelegt seien. Yendell: „Es passiert immer nur etwas, wenn es schon brennt“. (Quelle)
Fazit: Aus geschundenen Kinderseelen müssen nicht unglückliche, seelisch kranke oder gar verbrecherische Menschen werden. Es liegt an uns, das zu verhindern.
Wenn uns dieses nicht gelingt, müssen wir auch weiterhin kalte Tage wie diese in Flensburg erleben, die einen mehrfach frieren lassen.
Links / Studien
(1) Siehe hierzu eine aufschlussreichen Studie, im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht und besprochen: „Prävalenz und Folgen belastender Kindheitserlebnisse in der deutschen Bevölkerung„.
(2) Die Studie „What makes a violent mind? The interplay of parental rearing, dark triad personality traits and propensity for violence in a sample of German adolescents“ ist im Fachjournal „PLOS ONE“ erschienen.
* Der 20- Jährige Täter wurde im November 2021 zu einer Gefängnisstrafe von sieben Jahre verurteilt. Der Täter wurde nach Jugendstrafrecht verurteilt, unter anderem weil sein geistiger Zustand noch einem Heranwachsenden gleiche.
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Anmerkung: Text am 18.01.2023, 17.45 h erweitert