28. Dezember 2001: „Jeanne d’Arc“- oder „Tag des unschuldigen Kalbes“

Der 28. Dezember ist laut katholischer Kirche der „Tag der unschuldigen Kinder“. Jenes Tages also, an dem König Herodes aus Angst vor dem neugeborenen König der Juden alle Kinder entsprechenden Alters töten ließ. Auf einem Bauernhof in Dithmarschen heißt der Tag eher „Tag des unschuldigen Kalbes“. Warum das so ist, siehe folgender Text

Wir schreiben das Jahr 2001. Die Rinderkrankheit BSE (1) grassiert weltweit, auch in Nindorf, im Kreis Dithmarschen. „Jeanne d’Arc“ wird mitten in dieser Krankheitskrise geboren. Bei einem Tier aus der Herde wird BSE diagnostiziert – damals ein Todesurteil. Die Behörden wollen es im Januar 2001 töten. Doch das junge Bauernpaar, Torsten und Michaela Timm, versteckt das unschuldige Kalb „Jeanne d’Arc“ ein halbes Jahr lang zwischen Pferden, Hunden und einem Hängebauchschwein.

Wenn es nach den Behörden gegangen wäre, hätte das Kälbchen seine ersten 24 Stunden nach seiner Geburt im Januar 2001 nicht überlebt. Grund: Bei einem Tier aus der Herde war die Rinderkrankheit BSE diagnostiziert worden – damals ein Todesurteil. „Jeanne“ entkam dem Abdecker – und wurde Symbolfigur für Bauernwut.

Die Bauersfrau Michaela Timm, die als direkt Betroffene die Geschichte um „Jeanne d’Arc“ miterlebte, schildert hier den Fall:

Die BSE Krise erreicht 2001 Nindorf. Als mein Mann Torsten und ich uns am 29.1.2001 mit unserem kleinen Traktor aufmachten zu einer Demonstration gegen die Keulung eines Rinderbestandes wegen BSE in Nordhastedt, ahnten wir noch nicht, dass wir schon am Abend deutschlandweite Berühmtheit erlangt haben würden.

Im Internet hatten wir von diesem Termin erfahren. Hier auf einer Plattform für Rinderzüchter, ging es in den letzten Wochen seit Bekanntwerden des ersten BSE-Falles in Deutschland manchmal hoch her. Und am 28.1. dann der Aufruf eines Berufskollegen: „In Nordhastedt sollen morgen früh um 3 Uhr alle Tiere des Bauern Bernd Voss abgeholt werden. Dass darf nicht kommentarlos geschehen! Wer Zeit hat, kommt bitte und beweist Solidarität!”

Ein glücklicher Zufall wollte es, dass wir uns in der Dunkelheit dieses Morgens in Nordhastedt leicht verfuhren und auf einem Nebenweg an den Hof von Bernd Voss gelangten. Ein beherzter Demonstrant öffnete die angrenzende Weide und der Traktor wurde so auf der Hälfte der langen Hofzufahrt geparkt, dass er den gesamten Weg versperrte.

Die beiden Polizisten, die hier meinten einen Routineeinsatz zu absolvieren, merkten langsam, dass mit mehr Widerstand gegen den Abtransport der Tiere zu rechnen war, als anfangs angenommen. Scharrten sich bisher „nur” 30-40 Landwirte und ihre Frauen friedlich um ein kleines Lagerfeuer als Mahnwache, kam jetzt Leben in die Jüngeren unter ihnen auf.

Die LKWs standen still und kamen nicht auf den Hof.

Immerhin sollten hier 350 Tiere zum Töten abgeholt werden! Und alles nur, weil in der Herde eine ältere Kuh von BSE betroffen war. Und anders als z.B. in der Schweiz, wo nur der Jahrgang um das Geburtsdatum der betroffenen Kuh gekeult wurde (Kohortenkeulung), meinte Deutschland das Rad neu erfinden zu müssen und haute in blindem Aktionismus alles tot. Hiergegen richtete sich die Wut und Verzweiflung der anwesenden Landwirte.

In den Radionachrichten wurde in den nächsten Stunden immer wieder über die erfolgreiche Blockade der Bauern berichtet. Und stündlich wurde die Zahl der Demonstranten größer. Bernd Voss selbst war nach den belastenden letzten Tagen wohl so am Ende, dass er die Demonstrierenden bat, man möge doch die Milchkühe

abtransportieren lassen, da er sich nicht mehr in der Lage sah, diese weiter zu versorgen. Mit dem Landesveterinär Dr. Best wurde vereinbart, dass man die Lastwagen passieren lassen würde, aber nur unter der Bedingung, dass an diesem Tag nur die Kühe weggebracht würden.

Man ließ also die ersten Lastwagen auf den Hof und auch wieder herunter, hielt still Mahnwache mit Fackeln. Als der dritte LKW wieder vom Hof wollte, bemerkte ein Bauer, dass alle Lüftungsklappen geschlossen waren. Er wies einen Polizisten darauf hin und gemeinsam öffneten sie diese.  Und da konnte die aufgebrachte Menge sehen, dass auf diesem Lastwagen vorne zwar Kühe geladen waren, hinten aber die jüngsten Kälber.

Der Zorn war groß, angesichts der nicht eingehaltenen Abmachung. Der Weg wurde mit allen Mitteln versperrt. Der Lastwagen konnte nur meterweise seinen Weg fortsetzen. Am Ende der Auffahrt kam er wieder zum Stillstand und in seiner Verzweiflung setzte der Fahrer ihn schließlich bewusst sanft in den nächsten Straßengraben.

Einige Demonstranten forderten vom Kreis. Und Landesveterinär, einen verantwortlichen Politiker kommen zu lassen. Und tatsächlich kam nach ca. eine Stunde der Staatssekretär aus dem Landwirtschaftsministerium aus Kiel Herr von Plüskow.

Er stellte sich der Diskussion mit den aufgebrachten Landwirten. Immer wieder beharrte er darauf, dass BSE eine ansteckende Seuche wäre und was man überhaupt wolle, Bernd Voss wolle seine Tiere doch loswerden, da er von diesen keine Milch liefern dürfe und sie auch nicht geschlachtet werden dürften. Es wolle doch keiner diese Tiere!

An diesem Punkt entstand bei mir eine Idee; aberwitzig, unmöglich, phantastisch im Nachhinein!

Ich nahm all meinen Mut zusammen und nahm als nächste das Mikrofon und trug meinen Gedanken vor. Wenn keiner diese Tiere haben wolle, ich würde eines nehmen. Es wäre ein erst in dieser Nacht geborenes Kalb auf dem Transporter. Es hätte noch nicht einmal Gelegenheit gehabt bei der Mutter Biestmilch zu trinken. Wenn Herr von Plüskow meinte, dieses Kalb könnte BSE haben, ich glaubte es nicht! Ich würde es getrennt von unserer Herde aufziehen und halten.

Herr von Plüskow zog sich mit Dr. Best, dem Kreisveterinär Dr. Hartwig und dem Landrat  Dr. Klimant in einen Polizeibus zur Beratung zurück und kam nach 10 Minuten wieder mit den Worten: „Sie haben gewonnen, sie dürfen das Kalb mitnehmen.”

Jetzt ging alles ganz schnell, wir nahmen das Kalb und transportierten es im Kofferraum von Schwiegervaters Auto nach Nindorf. Auf der Fahrt wurde beraten, wo wir es unterbringen könnten. Schließlich fragten wir unsere Nachbarn Frank und Ulrike Beckmann, ob wir ihren Holzschuppen umnutzen dürften. Denn dass das Kalb nicht zu uns auf den Hof durfte, war uns sehr wohl bewusst.

Wie gut diese Entscheidung war, wurde schon am nächsten Tag klar! Noch am gleichen Tag erhielt das Kalb von uns den Namen Jeanne d’Arc, als Symbol unseres Kampfes gegen die Herdenkeulungen. Innerhalb kürzester Zeit war die Nachricht von der Kalb-Rettung in ganz Deutschland publik.

Und schon am nächsten Tag stand Dr. Best, der Landesveterinär ohne Vorwarnung bei uns im Stall und forderte das Kalb zurück. Er machte dabei ganz deutlich, dass unsere eigene Herde gekeult werden würde, sollte sich das Kalb bei uns auf dem Hof befinden.

Ab diesem Zeitpunkt setzte uns die Kieler Landesregierung tagelang mit unterschiedlichen Drohungen unter Druck. Aber zum Glück hatten wir gleich am ersten Abend großartige Unterstützer gefunden, die alle Beziehungen spielen ließen (bis hoch zu Peter Harry Carstensen, der damals noch im EU-Parlament tätig war), um uns zu helfen.

So blieben wir standhaft, spielten wochenlang Versteck mit den Behörden. Wir reichten selber Klage ein gegen das Verbringungsverbot, welches wir für Jeanne d’Arc erhalten hatten, gründeten eine Interessengemeinschaft für von BSE betroffene Landwirte und betrieben Öffentlichkeitsarbeit.

Im Sommer 2001 ging Deutschland auf die Kohortenkeulung über. Und viele Menschen bestätigen uns immer wieder, dass dieser Wandel in der Politik ohne Jeanne d’Arc nicht so schnell gekommen wäre. Wir hatten den Politikern und allen Menschen in Deutschland mit der Rettung gezeigt, welcher Irrsinn es war, kleine Kälber und  hochtragende Kühe auf Grund eines BSE-Falles auf dem Hof zu töten.

Jeanne d’Arc bekam in ihrem Leben drei Kälber, eines davon weiblich (Glücksfee). Heute leben auf unserem Hof eine Enkeltochter (Kleeblatt) und eine Urenkeltochter (Maifee) von Jeanne d’Arc. Sie selbst verstarb leider im Alter von gut 6 Jahren an einer Lungenentzündung. Aber sie hat in ihren ersten Lebenswochen mehr bewegt, als je ein anderes Rind vor ihr!“ Quelle: Gemeinde Nindorf, „Tierische Geschichten“

Einzelnachweise

(1) Bovine spongiforme Enzephalopathie, kurz BSE (deutsch: „bei Rindern auftretende schwammartige Veränderung von Gehirnsubstanz“), umgangssprachlich auch Rinderwahn genannt, ist eine Tierseuche. Die tödliche Erkrankung des Gehirns, vor allem bei Hausrindern, wird durch Prionen (atypisch gefaltete Proteine) verursacht.

Das stärkste Auftreten von BSE wurde mit weltweit über 37.000 Fällen im Jahr 1992 festgestellt; sehr weit überwiegend in Großbritannien (Quelle: RKI). Nach Angaben der Vereinten Nationen nahm die Anzahl der BSE-Fälle seit 2003 stetig ab. Während es 2003 weltweit noch 1646 Fälle gegeben habe, wurden 2004 noch 878 und 2005 nur noch 474 Krankheitsfälle festgestellt. 2011 wurden laut Landwirtschaftsministerium der Vereinigten Staaten nur noch 29 Fälle gemeldet.

Heute erkranken nur noch vereinzelt Rinder an BSE und auch das Auftreten der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit ist in Deutschland seit Jahren relativ stabil. Die Regeln wurden in den letzten Jahren zwar etwas gelockert, dennoch wird der BSE-Erreger nach wie vor aus der Lebensmittelkette ferngehalten.

Beitragsbild: Symbol

Autor: Willi Schewski

Fotograf. Blogger. Autor. Fotojournalist

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