NDR-Reportage: Hat Deutschland ein Problem mit Linksextremismus?

Es ist das größte Gerichtsverfahren gegen Linksextremisten seit Jahren: Vier Mitangeklagten wird vorgeworfen, in mehreren Fällen zielgerichtet vor allem Neonazis überfallen und verletzt zu haben. Ermittler berichten von einer hohen Brutalität.

Nach einer Reihe von Gewaltübergriffen auf Rechtsextremisten in Sachsen und Thüringen verteidigen Mitglieder der radikalen Linken im Interview mit dem NDR solche Übergriffe als eine Art Selbstverteidigung. Öffentlichkeit und Sicherheitsbehörden würden schließlich zu wenig gegen die extreme Rechte unternehmen.

„Jetzt kann man natürlich warten, dass Dinge wie Halle, Hanau oder Kassel passieren“, sagte eine linke Aktivistin, die anonym bleiben will, den Reportern von „Panorama – die Reporter“ (Sendung: „Panorama – die Reporter. Linksextrem und brutal?“, Dienstag, 7. Dezember, 21.15 Uhr, NDR Fernsehen) und STRG_F (NDR/funk, Dienstag, 7. Dezember ab 17.00 Uhr unter https://www.youtube.com/c/STRGF).

„Und dann gibt es Menschen, die sagen: Okay, wenn diese Menschen bereit sind, andere zu töten, dann muss ich sie in irgendeiner Form aufhalten. Der Kampf gegen Rechts „werde hingegen pauschal kriminalisiert“.

Bundesweit solidarisieren sich Unterstützerinnen und Unterstützer der linken Szene mit der Studentin Lina E., die zusammen mit drei weiteren Beschuldigten wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung derzeit in Dresden vor Gericht steht. Der Gruppe wird vorgeworfen, in mindestens sechs Fällen Neonazis oder vermeintliche Neonazis überfallen und verletzt zu haben.

Im verdeckten Interview schildern nun Linksextreme aus Leipzig ihr eigenes Vorgehen bei Angriffen auf ihre politischen Gegner. Die Taten seien geplant:

„Wir fahren nicht sinnlos aufs Dorf raus und picken uns irgendjemanden raus, sondern es wird richtig recherchiert. Wer sind bekannte Kader? Wer ist gefährlich?“, wird ein Mitglied einer radikalen Gruppe zitiert, die sich der militanten Antifa in Leipzig zurechnet.

Auch die Orte der Übergriffe seien sorgfältig vorbereitet. „Wir greifen sie an ihren intimsten Punkten an – vor dem Haus oder im Haus.“

Ihrer Ansicht nach bekämpfen sie mit derartigen Gewaltaktionen einen sich ausbreitenden Faschismus. Mit Neonazis könne man nicht mehr argumentieren, es gehe deshalb darum, Kante zu zeigen, sagen sie.

„Und diese Kante ist in ganz vielen Fällen ein Schlag ins Gesicht.“ Ihre Gewalt habe fast keine Grenzen. Nur jemanden töten, das wollen sie nach eigener Aussage nicht. Ihre Aussagen lassen sich nicht überprüfen.

Aber das beschriebene Vorgehen deckt sich mit weiteren Recherchen der Reporter. Die Interviewten wollen unerkannt bleiben, weil sie Verfolgung durch die Ermittlungsbehörden befürchten, die in Sachsen mit Gründung der Sonderkommission LinX des Landeskriminalamts verstärkt in der linksextremen Szene ermitteln.

Dirk Münster, Leiter des Staatsschutzes im Landeskriminalamt, weist im Interview mit dem NDR den Vorwurf von sich, zu wenig gegen Rechts zu unternehmen. In der Bekämpfung von rechtsmotivierter Kriminalität habe man in Sachsen viel erreicht. „Ich kann verstehen, dass man besorgt ist. Aber das als Rechtfertigung zu nehmen für schwere Straftaten, das ist für mich grundfalsch“, wird Münster zitiert.

Auch den Vorwurf der pauschalen Kriminalisierung von linkem Aktivismus weist er zurück. „Wir haben kein Problem mit Links. Wir haben ein Problem mit Straftätern, unabhängig, zu welchem Bereich sie gehören.“

Ein paar Zahlen zu politisch motivierten Gewalttaten in D:

2020 gab es Gewalttaten von Linksextremisten = 1092 und von Rechtsextremisten = 1526.

2020 gab es Körperverletzungen durch Linksextremisten = 532 und von Rechtsextremisten = 902.

2020 gab es Todesopfer durch Rechtsextremisten = 9 und von Rechtsextremisten = 0.

Todesopfer seit 1990 durch Rechtsextremisten = 213 und durch Linksextremisten = 4.

Der Verfassungsschutz sagt: Die größte Gefahr kommt von Rechtsextremisten.

Verfassungsschutz / NDR

Besonders die Szene in Leipzig steht im Fokus der Ermittler, hier hat sich nach Einschätzung des Bundesamts für Verfassungsschutz ein „Schwerpunkt linksextremistischer Gewalt“ etabliert.

Auch Lina E. und einige Mitangeklagte lebten zuletzt in Leipzig. Reporter des NDR konnten Ermittlungsunterlagen zum Fall einsehen und nachvollziehen, wie die Gruppe gearbeitet haben soll.

Bis auf einen wohl spontanen Überfall sollen auch sie gezielt vorgegangen sein: Die Opfer wurden ausgespäht, beobachtet und schließlich mit großer Überzahl attackiert. Manche von ihnen wurden laut Gerichtsmedizin dabei „potenziell lebensbedrohlich verletzt“.

Weder Lina E. noch die anderen Beschuldigten wollten sich gegenüber dem NDR zu den Vorwürfen äußern. Auch vor Gericht schweigen sie bislang.

Linksextremismus in Schleswig-Holstein

Linksextremisten sind erklärte Gegner der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland, die sie als von Rassismus und Faschismus geprägten Kapitalismus diffamieren. Je nach ideologisch-politischer Orientierung – revolutionär, marxistisch oder anarchistisch – haben sie als Ziel ein totalitär kommunistisch geprägtes System oder eine „herrschaftsfreie Gesellschaft“. 

Sie engagieren sich häufig im Bündnis mit anderen Interessengruppen – von lokalen Bürgerinitiativen bis hin zu Gewerkschaften, bei Bündnissen gegen Rechts auch bis hin zu nicht extremistischen Parteien.

Die verschiedenen linksextremistischen Bestrebungen versuchen mit verschiedenen Mitteln ihre Ziele umzusetzen. Linksextremisten greifen dabei unterschiedliche Themen- und Aktionsfelder auf und nutzen dabei ausgiebig das Internet. Damit werben sie gerade junge Menschen: die Jugendarbeit ist traditionell ein Schwerpunkt linksextremistischer Arbeit.

Ideologie und Ziele

Klassische Aktionsfelder des Linksextremismus sind:

„Antikapitalismus“ 

Dieses Themenfeld bildet den Kern der Vorstellungen des gesamten linksextremistischen Spektrums.

Dem Marxismus zufolge ist die kapitalistische Wirtschaftsform das dominierende Element menschlichen Daseins und bestimmt dadurch alle anderen Lebensbereiche. Linksextremisten identifizieren auf dieser Basis die freiheitliche demokratische Grundordnung mit dem Kapitalismus und bekämpfen diese, indem sie soziale Themen für ihre Zwecke instrumentalisieren.

„Antifaschismus“ 

Vor allem das Themenfeld „Antifaschismus“ zeichnet sich grundsätzlich für alle Linksextremisten dadurch aus, dass es eine hohe Anschlussfähigkeit an nichtextremistische Organisationen und Gruppierungen ermöglicht. Im Unterschied zur demokratischen Bekämpfung des Rechtsextremismus ist das linksextremistische „Antifaschismus“-Verständnis von Demokratie- und Menschenfeindlichkeit geprägt. In altkommunistischer Tradition unterstellen Linksextremisten der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland, selbst „faschistisch“ zu sein.

Sobald die Bewertung „Faschist“ vergeben ist, ist der Betroffene, unabhängig von seiner tatsächlichen Überzeugungen, nach linksextremistischem Urteil legitime Zielscheibe von Diffamierungen und Gewalttaten. Unter „Antifaschismus“ verstehen Linksextremisten bzw. Autonome nicht nur die konsequente Ablehnung rechtsextremistischer Bestrebungen, vielmehr setzen sie den offensiven „Kampf gegen Rechts“ mit dem „Kampf gegen das Ganze“, das heißt gegen das bürgerliche „System“, gleich.

„Antirassismus“

Das Themenfeld „Antirassismus“ stand in den letzten Jahren nicht im Mittelpunkt von Agitationen der linksextremistischen Szene in Hessen.

Das autonome „Antirassismus“-Verständnis konzentriert sich dabei nicht nur auf die Thematisierung der Flüchtlingsproblematik. Autonome wollen vor allem nachweisen, dass Staat und Gesellschaft selbst rassistisch sind und daher im linksextremistischen Sinne bekämpft und verändert werden müssen. Auch rechtmäßiges Handeln von Behörden gilt in dieser Diktion als rassistisch: „Nazis morden, der Staat schiebt ab – das ist das gleiche Rassistenpack“.

Daneben bedienen sich Linksextremisten noch anderen Themengebieten, wie etwa „Antirepression“„Antimilitarismus“und „Gentrifizierung“.

Lage in Schleswig-Holstein

Der Verfassungsschutz erhebt jährlich Zahlen zu Mitgliedern linksextremistischer Personenzusammenschlüsse. Die Zahlen sind zum Teil gerundet und geschätzt, erlauben aber zumindest eine Annäherung zur Anzahl linksextremistischer Personen und ihren Merkmalen in Schleswig-Holstein.

Im Jahre 2020 rechnete die Behörde dem „linksextremistischen Personenpotenzial“ 730 Personen zu – vier Prozent mehr als im Vorjahr.

„Gewaltorientiert“ seien nach der Einschätzung des Verfassungsschutzes 340 Personen (plus 1,5 Prozent). (Quelle)

Ursache für Linksextremismus

Maßgeblich für die Akzeptanz gesellschaftlicher Werte und Normen ist allgemein eine entsprechende Sozialisation im Elternhaus. Daher ist eine politische Radikalisierung allgemein häufig bei Jugendlichen erkennbar, bei denen familiäre Probleme vorliegen.

So gelten zum Beispiel ausbleibende oder problematische Wertevermittlung im Elternhaus, elterliche Vorurteile, familiäre Konflikte und Erfahrungen von Gewalt in der Familie als förderliche Faktoren für eine Radikalisierung (Beelmann, 2017).

Auch zeigt sich, dass Familien von radikalisierten Personen häufig von Scheidung, Abwesenheit des Vaters, Krankheit oder besonderen Todesfällen betroffen waren, wodurch möglicherweise weniger Zeit und Aufmerksamkeit für die Entwicklung der Kinder vorhanden war (Sikkens et al., 2017).

Ein hoher sozialer Zusammenhalt in der Nachbarschaft scheint dagegen einen Schutzfaktor darzustellen (Baier, 2018).

Als Folge eines instabilen familiären Hintergrunds kann es zu einer fehlenden Norminternalisierung bei den betroffenen Jugendlichen kommen. Das bedeutet, es findet keine Identifikation mit dem gesellschaftlichen Normen- und

Institutionengefüge statt und es entsteht stattdessen eine „Identität, die Delinquenz einschließt und die auch eine Bereitschaft beinhaltet, sich im Bereich des politischen Extremismus zu engagieren“ (Baier, 2018, S. 10).

In einer Studie des Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) heißt es: „Je stärker die elterliche Kontrolle bzw. elterliche Zuwendung ausgeprägt war, umso seltener wird den beiden linksextremen Einstellungen zugestimmt; das Verhalten wird hingegen kaum von der elterlichen Erziehung beeinflusst.

Gleiches gilt mit Blick auf das Erleben elterlicher Gewalt: Zumindest in der Befragung 2019 zeigt sich, das Befragte, die schwere elterliche Gewalt erlebt haben, auch häufiger linksextremen Einstellungen zustimmen.“ (Quelle)

Quellen:

Institut für Delinquenz und Kriminalprävention Haute École de Travail Social Fribourg (Link)

Wissenschaftliche Analyse zum Phänomen des Linksextremismus in Niedersachsen, seiner sozialwissenschaftlichen Erfassung sowie seiner generellen und spezifischen Prävention (Link)

Jugendliche als Opfer und Täter von Gewalt in Berlin (Link)

Linksextremistische Erscheinungsformen und insbesondere linke Gewalt in Schleswig-Holstein (pdf)

Beitragsfoto: Symbol

Autor: Willi Schewski

Fotograf. Blogger. Autor. Fotojournalist

Ein Gedanke zu „NDR-Reportage: Hat Deutschland ein Problem mit Linksextremismus?“

Kommentar verfassen

Bitte logge dich mit einer dieser Methoden ein, um deinen Kommentar zu veröffentlichen:

Gravatar
WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Google Foto

Du kommentierst mit Deinem Google-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

%d Bloggern gefällt das: