5. März 1933: Letzte Reichstagswahl im Mehrparteiensystem

Die Reichstagswahl am 5. März 1933 war die Wahl zum achten Deutschen Reichstag in der Weimarer Republik. In Preußen war sie zugleich Landtagswahl. Sie war die letzte Reichs- und Landtagswahl, an der mehr als eine Partei teilnahm. In der beginnenden Zeit des Nationalsozialismus wurden diktatorische Mittel angewandt. Im Wahlkampf verübten Mitglieder der NSDAP in sehr verstärktem Maße Übergriffe auf politische Gegner aus der KPD und SPD. Gegendemonstrationen wurden verboten, kommunistische und sozialdemokratische Zeitungen durften tagelang nicht erscheinen, zudem wurden Wahlplakate überklebt und praktisch jegliche politische Opposition zunehmend unterdrückt. In Schleswig-Holstein wählten die Menschen mehrheitlich NSDAP und ermöglichten den Weg in die Diktatur. Doch warum?

1933, also vor 90 Jahren, begann der Niedergang der Demokratie und der Weimarer Republik. Das Ende, das 12 Jahre später folgen sollte, ist bekannt: Ein Massenexitus mit Millionen Toten, angezettelt durch Adolf Hitler und die Nazis. Wir erinnern: Hitler und die Nazis kamen LEGAL an die Macht. Nachdem Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde, folgte am 5. März 1933 die Reichstagswahl. Sie war die letzte Reichs- und Landtagswahl, an der mehr als eine Partei teilnahm. Auffallend viele Wahlberechtigte in Schleswig-Holstein stimmten für die Nazis (47,1 Prozent) und für die – später folgende – Diktatur.

Viele, zu viele Menschen, nicht nur in Schleswig-Holstein sondern in ganz Deutschland ließen sich weiter verführen, bis in den Untergang. Explizit hoch lagen die Erfolge der Nationalsozialisten (NSDAP) in den Wahlkreisen Südtondern (73,5 Prozent), Norderdithmarschen (68,6 Prozent), Husum (68, 5 Prozent) und Landkreis Flensburg (71,6 Prozent).

Politische Einordnung der Lage im Landkreis Flensburg (heute Landkreis Schleswig-Flensburg)

Wie konnte der enorme Stimmengewinn für die NSDAP geschehen? Dafür gibt es zwei Erklärungen: a) die politische/wirtschaftliche und b) die psychologische. Beginnen wir mit a): Die Zeiten waren hart: Die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges hatten auch im ländlichen Bereich zur allgemeinen Verelendung geführt.

Die Inflation der Jahre 1920-1923 und instabile politische Verhältnisse im Deutschen Reich und der Provinz Schleswig-Holstein schufen verheerende Zustände. Die Bauern fühlten sich von den im Reichstag vertretenen Parteien nicht mehr repräsentiert.

Selbst in bäuerlichen Verbänden in der Provinz drohte die Entwicklung zu entgleiten. Es bildete sich die „Landvolkbewegung“ (1), die in den Jahren 1928/29 durch Gewalttaten und Sprengstoffanschläge auf sich aufmerksam machte. Historiker sehen die „Landvolkbewegung“ als einen Wegbereiter für den Erfolg der NSDAP.

Da auch dieser Bewegung kein Erfolg beschieden war, suchte man mehr und mehr den Anschluss an eine Partei, die ihrerseits dem Weimarer System abgewandt war. Gleichzeitig hatte die NSDAP ihre Chance erkannt, fortan die Interessen der Bauern zu vertreten. 

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Sie strich sämtliche sozialistischen Zielsetzungen und begann ihr Parteiprogramm bewusst auf die Forderungen der Landwirte hin zu ändern. Zunächst im westlichen Teil des Landes, in Dithmarschen, später in der ganzen Provinz Schleswig-Holstein wurde die NSDAP 1932 stärkste Partei.

Stärkste Partei – mit den Mitteln der Gewalt

In der nun beginnenden Zeit des Nationalsozialismus wurden diktatorische Mittel angewandt. Im Wahlkampf verübten Mitglieder der NSDAP in sehr verstärktem Maße Übergriffe auf politische Gegner aus der KPD und SPD.

Gegendemonstrationen wurden verboten, kommunistische und sozialdemokratische Zeitungen durften tagelang nicht erscheinen, zudem wurden Wahlplakate überklebt und praktisch jegliche politische Opposition zunehmend unterdrückt.

Daneben setzte bereits die staatliche Verfolgung ein. Dabei kam der Regierung (Kabinett Hitler) auch der Reichstagsbrand vom 27. auf den 28. Februar 1933 zugute. Die tags darauf erlassene Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat („Reichstagsbrandverordnung“) setzte die Grundrechte außer Kraft, und die Strukturen der KPD wurden praktisch zerschlagen.

Bei der Wahl am 5. März 1933 selbst konnte die NSDAP zwar stark zulegen, erhielt aber nicht die erhoffte absolute Mehrheit. Zusammen mit der Kampffront Schwarz-Weiß-Rot, einem von der DNVP dominierten Wahlbündnis, hatte die Regierung nach der Wahl eine parlamentarische Mehrheit und konnte darauf gestützt den Weg in die Diktatur ebnen.

Zu b): Warum wählten die Menschen Hitler und die Nationalsozialisten?

“Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muß weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich.

Jugend muß das alles sein. Schmerzen muß sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muß erst wieder aus ihren Augen blitzen. Stark und schön will ich meine Jugend. . . So kann ich das Neue schaffen.” —Adolf Hitler

Zitat nach Alice Miller

Die Beantwortung der Frage ist in der Tat sehr komplex, hier kurz zusammengefaßt. Physische und psychische Gewalterfahrung in der frühen Kindheit leiten grundsätzlich die politischen Einstellungen eines Menschen.  Die Schweizer Psychoanalytikerin Alice Miller (gest. 2010) konnte den Kontext bereits in ihren frühen Werken („Am Anfang war Erziehung“ & „Du sollst nicht merken“) eindrucksvoll nachweisen.

Der 2008 verstorbene Hamburger Kinder- und Jugendpsychiater Peter Riedesser schreibt:

„Je mehr Kinder bei uns und weltweit vernachlässigt, geschlagen, gedemütigt werden und in Hoffnungslosigkeit und Hass abgleiten, desto höher ist das destruktive Potenzial in unserem eigenen Land und weltweit. Vor diesem Hintergrund ist Kinderschutz zu einer Frage des Überlebens geworden. Weltweiter Kinderschutz ist der Königsweg zu Prävention, nicht nur von seelischem Leid, sondern auch von Kriminalität, Militarismus und Terrorismus.

Er sichert die Demokratie und den friedlichen kulturellen und ökonomischen Austausch. Unsere gesamte Kreativität und Entschlossenheit sind gefragt, dies zu realisieren. Wenn wir alle dies wollten in einem einzigartigen solidarischen Akt, hätten wir dafür auch das Wissen und die Mittel.“ 

Wie politisch ist die Kindheit?

Der Anhänger des Nationalsozialismus „lebte von der narzisstischen Bedürftigkeit und Abhängigkeit seiner Anhänger, von ihren Schamgefühlen, Kriegstraumata und frühkindlichen Erlösungsphantasien.“, schreibt Marks, Stephan: Warum folgten sie Hitler? – Die Psychologie des Nationalsozialismus.

Die Deutschen, die gewalttätige Nazis wurden, kamen in erster Linie aus autoritären Mittelschicht-Familien, nicht aus der Armut„, berichtet der Sozialwissenschaftler und Pionier der Psychohistorie Lloyd deMause (gest. 2020). Und das widerspricht den wirtschaftlichen/politischen Annahmen, die oben unter a) beschrieben wurden. (Quelle)

„Er führt fort: Historiker haben es vermieden, über die deutsche Kindererziehung Ende des 19. Jahrhunderts zu forschen. Die wenigen, die eine solche Forschung begonnen haben, haben herausgefunden, dass die deutsche Kindheit durchweg brutaler war als die französische oder britische Kindheit.

„Jede Erziehungspraxis in der Geschichte wird im politischen Verhalten Erwachsener wieder aufgeführt“.

„Der Zusammenhang zwischen Kindheitsleid und Destruktivität im Erwachsenenalter ist zwar klar wie Wasser, fest wie Fels, wird aber dennoch weiterhin gern geleugnet“, schreibt der Autor Sven Fuchs in seinem Buch „Die Kindheit ist politisch“.

Hitler präsentiert sich nach dem Machtantritt als „starke“ (und auch durchgreifende, strafende, schlagende) Vaterfigur, als Kinder- und Hundefreund. Er lässt sich als einen Staatenlenker und Strategen darstellen, so dass die deutschen Frauen und Mädchen ungehindert von ihrem „Führer“ träumen können. Sie jubeln ihm zu und geben bereitwillig die emanzipatorischen Errungenschaften der zwanziger Jahre auf. 

Hitler und die Nazis spiegeln die Erziehungs- und Lebenspraxis der damaligen Zeit wider. Der harte „Vater“, der Führer, die auf den Tisch haut, der sich durchsetzt. Der skrupellose Tyrann mobilisiert die verdrängten Ängste der einst geschlagenen Kinder, die ihren Vater niemals anklagen konnten, auch heute nicht können, und die ihren Vätern trotz der erlittenen Qualen die Treue halten. Jeder Tyrann versinnbildlicht diesen Vater.

Nach DeMause sind „Politik und Geschichte (…) nichts anderes als eine Wiederholung und Neuinszenierung von Traumata, die in frühester Kindheit erlitten wurden. Für deMause kommt es dabei zu einem komplexen Wechselspiel zwischen den traumatischen Kindheitserfahrungen der politischen Führungsfiguren und den Gruppenfantasien der Bevölkerung, die ihren Ursprung wiederum in Kindheitstraumata haben und die auch die Wahl ihrer Anführer bestimmen.“ Quelle

Alice Miller schrieb über die Hinrichtung von dem Diktator Saddam Hussein, dessen Kindheits- und Erwachsenen-Geschichte sich mit Hitler vergleichen ließ, folgendes: „Millionen junger Menschen müssen als Soldaten sterben, um die Machtspiele von Diktatoren zu ermöglichen, die, wenn sie schließlich doch gefangen wurden, von den Siegern bemitleidet werden, um deren Blindheit zu sichern. Selbst wenn ich für die Kinder, die die Diktatoren einst waren, viel Mitgefühl empfinde, habe ich ganz und gar kein Mitleid mit einem Erwachsenen, der Menschen massenhaft hängen, erschießen oder vergasen ließ. “ Quelle

Die Geschichte von vor 90 Jahren lässt sich leider auch auf heute beziehen, wir lauschen Alice Miller: „Junge Menschen müssen als Soldaten sterben, um die Machtspiele von Diktatoren zu ermöglichen“, siehe die Irrationalität von Wladimir Putins Ukraine-Krieg.

*“Der deutsche Faschismus wurde, wie jeder andere Faschismus der Geschichte, im Elternhaus geboren

Psychohistoriker Robin Grille schreibt über die Entstehung des Nationalsozialismus in Deutschland in seinem Buch „Parenting for a peacefull world“ folgendes:

„Der deutsche Faschismus wurde, wie jeder andere Faschismus der Geschichte, im Elternhaus geboren. Der Nationalsozialismus war nicht mehr als ein Erziehungsmodus – das Beharren darauf, den Willen der Kinder durch Terror zu besiegen – wurde auf eine große, nationale Leinwand projiziert.“ … Viele Historiker neigen dazu, die wirtschaftliche Verzweiflung zu rationalisieren. Wir sollten uns auch die Bilder von deutschen Babys vor Augen führen, die in ihrer Fähigkeit, menschliches Mitgefühl zu empfinden, verkrüppelt sind…..“Schreber schrieb ein damals sehr beliebtes Erziehungshandbuch. Er befürwortete die Verwendung von Metalljacken, die Kinder den ganzen Tag tragen sollten, um eine aufrechte Haltung zu erzwingen. Er sprach sich dafür aus, den Kindern Selbstverleugnung beizubringen. Seine Ideen hatten einen großen Einfluss auf die deutschen Eltern.“ Historiker mögen für immer über die Unterstützung der deutschen Bevölkerung für die nationalsozialistische Gewalt diskutieren. Was überwiegt, ist das Gefühl, dass die stillschweigende Zustimmung weit verbreitet war. Hitlers eliminatorischer Traum hätte nicht gedeihen können, wenn er nicht in einer Bevölkerung mit einer großen Anzahl virulenter rassistischer Menschen gekeimt wäre.“ In einer modernen demokratischen Gesellschaft, wie sie Deutschland heute ist, würden die meisten Eltern die Erziehungsmethoden, die in Hitlers Kindheit vorherrschten, als abstoßend empfinden. Aber Hitler profitierte von großen Teilen der Öffentlichkeit, die daran gewöhnt waren, brutale ‚Väter‘ als normal zu betrachten.“ „Im heutigen Deutschland ist es unwahrscheinlich, dass jemand wie Hitler eine bedeutende Machtposition erlangen würde. Im Durchschnitt gibt es ein viel höheres Niveau der emotionalen Entwicklung. Die Eltern wurden darin geschult, wie sie ihren Kindern auf nicht verletzende Weise Grenzen setzen können.“ Deutsche Übersetzung / Zitat a. d. Buch „Parenting for a peacefull world“ v. Psychohistoriker Robin Grille 

Quelle*

Quellen / Weiterführende Informationen

(1) Die schleswig-holsteinische Landvolkbewegung, die bald auf weitere Teile des Deutschen Reiches überging, bildete sich in Antwort auf die Agrarkrise der 1920er-Jahre, die sich 1927 verschärfte. Viele Bauern gerieten in existenzielle Not, es kam zu Steuerpfändungen gegen die Bauern. Die Landvolkbewegung organisierte einen Steuerboykott, forderte mehr als einmal die Staatsmacht heraus und verübte mehrere Sprengstoffanschläge. Zur Ausrichtung der Landvolkbewegung gehörten Völkischer Nationalismus, Antiparlamentarismus und Antisemitismus. Historiker sehen die Landvolkbewegung als einen Wegbereiter für den Erfolg der NSDAP

*Nachtrag Verfasser: Text am 14.03.2023 erweitert

Autor: Willi Schewski

Fotograf. Blogger. Autor. Fotojournalist

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