16. Januar 1219: Die erste Marcellusflut wütet an der Nordseeküste

Die friesische Nordseeküste im Januar 1219. Bereits seit Tagen weht eine leichte Brise aus Südwest. Am 16. Januar, dem Tag des heiligen Marcellus, wird aus dem leichten Wind um die Mittagszeit ein schwerer Hagelsturm. Es ist der Auftakt für eine der verheerendsten Sturmfluten in der Geschichte der Nordseeküste

Die erste Marcellusflut ereignete sich am 16. Januar 1219. Sie ist benannt nach dem Heiligen Marcellus I., an dessen Gedenktag sie sich ereignete. Die erste Marcellusflut ist die erste große Sturmflut an der Nordsee, von der ein Augenzeugenbericht existiert. Der Geistliche Emo von Wittewierum schreibt über den Beginn der Ersten Marcellusflut in seiner „Chronik über Friesland“:

Mit diesen Wurfgeschossen (Anmerkung gemeint sind Hagelkörner) gewappnet, riss der blutdürstige Südwestwind die elenden Sterblichen auf dem Meer wie an Land grausam ins Verderben.

„… Das Meer ergoss sich kochendem Wasser ähnlich und überschwemmte das friesische Küstenland, das wie von einem plötzlichen Tod überfallen wurde. Es nahm sich die Wohnstätten der Armen und überfiel die Häuser der Reichen. Die Wassermassen wüten, bis die Stützbalken der Häuser durch Unterspülen und Brechen herausgerissen waren„. Zitat Emo von Wittewierum (1)

Folgen

Allein an der Westküste des heutigen Schleswig-Holsteins sterben bei der Marcellusflut Schätzungen zufolge 10.000 Menschen.

Nach einem unzuverlässigen Bericht in der Sächsischen Weltchronik sollen bei dieser schweren Sturmflut, die fehlerhaft auf den 17. November 1218 datiert wurde, an der gesamten Nordseeküste etwa 36.000 Menschen gestorben sein. Die Colmarer Annalen nennen sogar die Zahl von 50.000 Opfern. Besonders schwer war Westfriesland in den heutigen Niederlanden betroffen.

Installation „Windhosen“ von Julia Bornefeld an der Husumer Dockkoogspitze (3)

(Aber)Glaube ist nicht Wissen

Der Aberglaube war an der Nordseeküste tief in den Menschen verwurzelt. Der Geistliche und Augenzeuge der Katastrophe, Emo von Wittewierum versuchte zwar eine naturphilosophische Erklärung, deutete die Marcellusflut und die darauf folgende Hungersnot aber letztlich als Sintflut „wegen unserer Verbrechen“. Diese Interpretation von Naturkatastrophen ist im Mittelalter üblich. Die reichen Marschbauern hätten nicht an die Armen gedacht; deshalb hätten sie ihr Land verloren.

Küstenbewohner, besonders aber Insulaner, sind gewöhnlich fromm, voll unerschütterlichen Gottvertrauens und in gutem wie minder gutem Sinne gläubig. Sie ähneln darin den Bewohnern der Gebirge, ja übertreffen dieselben meistenteils an Innigkeit der Glaubenskraft. Ihre ganze Lebenstätigkeit, ihr ewiger Kampf mit der Wut rasender Elemente erklären diese Erscheinung.

Germanischen Stämmen ist ohnehin Glaubenstreue in hohem Grade eigen, und der friesische Stamm bleibt hinter andern deutschen Bruderstämmen darin nicht zurück.

Noch heutigen Tages finden wir bei den Bewohnern Nordfrieslands ein so festes Gottvertrauen, eine solche Hingabe an die Allmacht eines höchsten Wesens, wie kaum irgendwo anders, und seltsam, je höher die Not anschwillt, je drohender die Gefahr sich emportürmt, je augenscheinlicher Untergang und Vernichtung sich nähern, desto unerschütterlicher wird das Vertrauen des Friesen, desto unumstößlicher sein Glaube.

Es ist dies ein schöner Zug in seinem Charakter, der zugleich vieles in der drangvollen Geschichte dieses kraftvollen Volkes erklärt. Allein so stark der Glaube an eine ewig waltende Vorsehung, so ausgebildet ist bei den Friesen auch die Schattenseite menschlicher Gläubigkeit, der Aberglaube. (2)

Weiterführende Informationen / Quellen

Gerrit Jasper Schenk: Meeresmacht und Menschenwerk. Die Marcellusflut an der Nordseeküste im Januar 1219. In: Ders. (Hrsg.): Katastrophen. Vom Untergang Pompejis bis zum Klimawandel. Thorbecke, Ostfildern 2009, ISBN 978-3-7995-0844-5, S. 52–66.

(1) Bernd Rieken: Nordsee ist Mordsee. Sturmfluten und ihre Bedeutung für die Mentalitätsgeschichte der Friesen. Band 187. Nordfriisk Instituut, Münster 2005, S. 151.

(2) Quelle: http://www.lexikus.de/bibliothek/Ein-Besuch-auf-dem-Dueneneilande-Sylt-1830/Aberglauben-und-Sagenhaftes-auf-Sylt

(3) Installation von Julia Bornefeld: Windhosen (2007, Stahl, Herrenhosen)
Dockkoogspitze, 25813 Husum. Im Gegensatz zu den zerstörerischen Windhosen, die stets für viel Ärger bei den Betroffenen sorgen, zaubern die Windhosen an der Husumer Dockkoogspitze eher ein Lächeln ins Gesicht der Betrachter. Denn hier sind es echte Beinkleider, die auf dem Nordseedeich an zwanzig Stelen im Wind hängen. Damit macht die Künstlerin einen gedanklichen Luftsprung, denn das schöne Wort Windhose wechselt nicht nur bildhaft seine Bedeutung, sondern auch seine Funktion: Der Wind hängt hier selbst im Wind.

Nicht nur der Wortwitz macht das Kunstwerk für die Spaziergänger am Deich interessant, sondern auch die Form, die durch die eng beisammen stehenden Stelen samt ihrer wehenden Hosen entsteht. Denn mit ihren klaren und reduzierten Formen bilden die Stelen und die Hosen ein grafisches Muster, das sich je nach Standort und Witterung verändert.

Beitragsbild: Symbol für Sturmflut an der Nordseeküste

Autor: Willi Schewski

Fotograf. Blogger. Autor. Fotojournalist

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