16. Dezember 1999:  Autor Günter Grass erhält den Nobelpreis für Literatur

Der Beitrag geht auf die Bekanntgabe des Autoren und Literaturnobelpreisträgers Günter Grass ein, der zugab, im Herbst 1944 als 17-Jähriger zur Waffen-SS eingezogen worden zu sein. Ferner darf am Ende des Textes auf die Ausstellung „Indienbilder“ im Günter-Grass-Haus in Lübeck hingewiesen werden

Am 16. Dezember 1999 erhält der Autor Günter Grass  (geb. 16. Oktober 1927 in Danzig-Langfuhr, Freie Stadt Danzig, als Günter Wilhelm Graß;  gest. 13. April 2015 in Lübeck) den Nobelpreis für Literatur. Begründung der Jury: Grass habe „in munterschwarzen Fabeln das vergessene Gesicht der Geschichte gezeichnet“. Günter Grass war Schleswig-Holsteiner, er lebte von 1987 bis zu seinem Tod in Behlendorf im Kreis Herzogtum Lauenburg in der Nähe der Kreisstadt Ratzeburg, etwa 25 Kilometer südlich von Lübeck. Trotz seines großen literarischen Werkes, dass es zu würdigen gilt, legte sich am Ende seiner Lebenszeit ein Schatten über den Meister. Und der hieß Waffen-SS.

In seinem autobiografisch geprägtes Buch Beim Häuten der Zwiebel, erschien im August 2006, „häutete“ sich der Autor, indem er Schichten seiner Jugenderinnerungen freilegte. Beim Freilegen einer dieser „Häute“ erregte Grass Aufsehen, gab er doch nach über 60 Jahren bekannt, im Herbst 1944 als 17-Jähriger zur Waffen-SS eingezogen worden zu sein.

In dem Buch schrieb Grass, er werde die Waffen-SS in seiner Jugend „als Eliteeinheit“ gesehen haben, „die doppelte Rune am Uniformkragen“ sei ihm „nicht anstößig“ gewesen.[Quelle] Nach eigenen Angaben war er während seiner Zugehörigkeit zur Waffen-SS an keinen Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkrieges beteiligt, er habe nicht mal einen einzigen Schuss abgegeben. Denn als Ladeschütze im Panzer-Regiment der 10. SS-Panzer-Division „Frundsberg“ sei er nur mit dem Nachladen, nicht aber mit Schießen betraut gewesen.[Quelle]

Er hatte seine SS-Mitgliedschaft auch bei seiner Gefangennahme am 8. Mai 1945 gegenüber der US-Army angegeben.[Quelle] Bereits 20 Jahre vor Beim Häuten der Zwiebel hatte Grass mehreren Schriftstellerkollegen seine Zeit bei der Waffen-SS zur Kenntnis gegeben, darunter dem 1944 geborenen österreichischen Lyriker, Autor und Regisseur Robert Schindel und dem mit diesem gleichaltrigen Theaterautor Peter Turrini.[Quelle]

Reaktionen

In Reaktion auf das späte Geständnis seiner SS-Zugehörigkeit gab es zahlreiche, sowohl kritische aber auch verständnisvolle Kommentare.[Quelle] 

Charlotte Knobloch (ehemalige Präsidentin des Zentralrates der Juden in Deutschland) sah das Bekenntnis von Grass als PR-Maßnahme an und sagte „Die Tatsache, dass dieses späte Geständnis so kurz vor der Veröffentlichung seines neuen Buches kommt, legt […] die Vermutung nahe, dass es sich dabei um eine PR-Maßnahme zur Vermarktung des Werkes handelt.[Quelle] 

Der Journalist und Hitler-Biograf Joachim Fest äußerte sein Unverständnis, „wie sich jemand 60 Jahre lang ständig zum schlechten Gewissen der Nation erheben kann, gerade in Nazi-Fragen – und dann erst bekennt, dass er selbst tief verstrickt war“.[Quelle] 

Verschiedene Autoren, vor allem solche aus dem Kreis der Neuen Frankfurter Schule, überzogen Grass aufgrund des hier behandelten Anlasses in dem Sammelband Literatur als Qual und Gequalle. Über den Literaturbetriebsintriganten Günter Grass mit heftiger Polemik hinsichtlich seiner Person, wie auch der Qualität seines Werkes.[Quelle: Klaus Bittermann (Hrsg.): Literatur als Qual und Gequalle. Über den Literaturbetriebsintriganten Günter Grass. Berlin 2007.] 

Hingegen wurde zu seinen Gunsten angeführt, Kritiker hätten Grass’ politische Positionen eigentümlich verzerrt, exemplarisch Hannes Stein und Henryk Broder folgenreich eine Interview-Äußerung ungenau und missverständlich, wenn nicht sogar verfälscht dargestellt.[Quelle] 

Stefan Reinecke stellte in der taz heraus, es werde so getan, „als hätte der Autor eine unsagbare persönliche Schuld verschwiegen – ohne dass es dafür ein Indiz gibt.“ Zudem werde „Grass zu einer Größe aufgepumpt“, die er nie gehabte habe.[Quelle] 

Klaus Staeck, Präsident der Akademie der Künste, betonte, dass „das künstlerische Werk und auch seine politische und moralische Integrität auch nach seinem Bekenntnis außer Zweifel“ stünden.[Quelle]

Verschiedentlich wurde auch die Aberkennung oder Rückgabe von verliehenen Auszeichnungen verlangt. So forderte der polnische Politiker Lech Wałęsa zunächst, Grass solle die Ehrenbürgerschaft der Stadt Danzig ablegen.[Quelle] 

Die CDU-Politiker Wolfgang Börnsen forderte ihn zur Rückgabe seines Nobelpreises auf.[Quelle] Nach einem Reue bekennenden Schreiben an die Stadt Danzig und dem Anerkennen der Reue durch Lech Wałęsa verebbte die Diskussion. Wałęsa nahm seine Kritik ausdrücklich zurück. Der Danziger Bürgermeister Paweł Adamowicz äußerte, dass das späte Bekenntnis von Grass nichts an der Qualität seiner Literatur und seinen Verdiensten für die deutsch-polnische Aussöhnung ändere.[Quelle]Auch das Nobelpreiskomitee schloss eine Aberkennung des Nobelpreises aus.[Quelle]

Im November 2007 erhob Grass durch seinen Anwalt Unterlassungsklage gegen die Verlagsgruppe Random House, zu der der Goldmann Verlag gehört. Die Klage zielte gegen die Behauptung, Grass habe sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet, in einer aktualisierten, bei Goldmann erschienenen Fassung der Grass-Biografie von Michael Jürgs.[Quelle] Zu einer Gerichtsverhandlung kam es nicht.

Grass und Random House einigten sich auf einen Vergleich, wonach sich Jürgs verpflichtete, den strittigen Passus in einer Neuauflage dahingehend zu ändern, dass Grass in seiner Autobiographie geschrieben habe, als Siebzehnjähriger im Herbst 1944 zur Waffen-SS-Division „Frundsberg“ eingezogen worden zu sein.[Quelle] Dies entsprach auch der Darstellung von Robert Schindel, wonach Grass – nachdem er sich freiwillig zur U-Boot-Truppe gemeldet hatte und dort nicht angenommen worden war – zur Waffen-SS rekrutiert wurde.[Quelle]

Wohnsitz des Schriftstellers bis zum Tode in Schleswig-Holstein

Günter Grass lebte von 1987 bis zu seinem Tod in Behlendorf im Kreis Herzogtum Lauenburg in der Nähe der Kreisstadt Ratzeburg, etwa 25 Kilometer südlich von Lübeck. In Lübeck findet sich das Günter-Grass-Haus mit dem überwiegenden Teil seiner literarischen und künstlerischen Originalwerke.

Grass starb am 13. April 2015 im Alter von 87 Jahren in einem Lübecker Krankenhaus. Er wurde am 29. April 2015 im engsten Familienkreis auf dem Friedhof von Behlendorf beigesetzt. Am 10. Mai 2015 fand eine zentrale Trauerfeier in Anwesenheit von Bundespräsident Joachim Gauck im Theater Lübeck statt, die Hauptrede hielt der Schriftsteller John Irving. Schleswig-Holstein ehrte Grass mit der Trauerbeflaggung öffentlicher Gebäude an diesem Tag.

Ausflugstipp: Günter-Grass-Haus

Das Museum findet sich mitten in der historischen Lübecker Altstadt. Es stellt das Leben und Werk des Literaturnobelpreisträgers, Malers, Bildhauers und Grafikers Günter Grass vor. In einer viel beachteten Reihe präsentiert es immer wieder auch andere Künstler, die ähnlich wie Günter Grass in Wort und Bild tätig waren oder sind. Das Haus liegt in der Lübecker Altstadt, in der Glockengießerstraße 21, 23552 Lübeck.

Aktuelle Ausstellung: Indienbilder im Günter Grass-Haus

In einer aktuellen Ausstellung widmet sich das Günter Grass-Haus in Kooperation mit der Völkerkundesammlung Lübeck mit einer Sonderausstellung dem Subkontinent Indien, der Günter Grass nach seinen Reisen dorthin zu einigen Werken inspiriert hat. Seine Texte und Zeichnungen zum Thema Indien haben in Ausstellungen und in der Forschung bisher verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit erhalten.

Ein Grund hierfür mag die Kontroverse sein, die sich um seine Werke entspannte. Zweifellos entwirft er ein düsteres Bild Indiens. Vor dem Hintergrund der Geschichte des Kolonialismus fragten sich manche, ob Grass als Europäer das Recht hatte, ein so kritisches Werk zu verfassen.

Eine Frage, die angesichts jüngster Debatten um Karl May und „Cancel Culture“ von größter Aktualität erscheint. Umso wichtiger ist es den Kuratoren, Dr. Jörg-Philipp Thomsa vom Günter Grass-Haus und Dr. Lars Frühsorge von der Lübecker Völkerkundesammlung, das Thema nun in der Schau „Indienbilder – von Mutter Teresa bis Günter Grass“ aufzugreifen.

Die Ausstellung ist bis 15. Februar zu sehen. Die mehr als vierzig Bilder von Günter Grass sowie einige seiner Manuskripte werden ergänzt von knapp zwanzig indischen Objekten der Völkerkundesammlung.

Was ist Indien? Zahllose Antworten auf diese Frage sind denkbar angesichts der Vielfalt an Sprachen, Ethnien und Glaubensgemeinschaften und der ebenso komplizierten Geschichte des Subkontinents, der als Kulturraum auch Pakistan, Bangladesch und Nepal umfasst.

Die heutige Vorstellung einer indischen Nation ist im Wesentlichen das Resultat der britischen Kolonisation, die dieses Gebiet erstmalig politisch vereinte. So sind in der Kolonialzeit geschaffene Strukturen für das heutige Selbstverständnis Indiens von großer Bedeutung.

Gleichsam besteht jedoch der Wille, sich von der traumatischen Erfahrung der jahrhundertelangen Unterdrückung, Ausbeutung und Bevormundung durch Europa abzugrenzen.

Ökonomische und politische Ungleichheiten und Abhängigkeiten bleiben aber bis heute bestehen. Europäische Fremdwahrnehmung und indische Selbstbilder stehen daher stets in einem Spannungsverhältnis. 

Indien kann auch überfordern. Europäische Versuche, diese Vielfalt zu beschreiben, ihr literarisch oder künstlerisch gerecht zu werden, sind immer wieder an ihrer Einseitigkeit gescheitert.

Nicht selten diente Indien als bloße Projektionsfläche europäischer Fantasien und Vorurteile. Auch die Werke von Günter Grass sind als einseitig, ja sogar als neokolonial-arrogante Belehrung der Menschen in Indien aufgefasst worden.

Verortet man Grass‘ Werk jedoch in einem breiteren Kontext seines literarischen und künstlerischen Schaffens, vergleicht man es mit der Art, wie er sich mit seinem eigenen Land stets kritisch auseinandersetzte, wird das Urteil differenzierter ausfallen.  

Als besonderes Highlight der Ausstellung gilt eine Bollywood-Tanzstation, bei der mit Hilfe von künstlicher Intelligenz getanzt werden kann. Die Bewegungen werden in Form von Avataren an eine Wand projiziert. Die Avatare wurden von der Künstlerin Pola Rader gestaltet, die mit dem IT-Systemarchitekten Dirk Hoffmeister in einem Crossover zwischen Medien und kybernetischer Kunst kooperiert. 

Begleitprogramm
Öffentliche Führungen durch die Dauer- und Sonderausstellung
Am 26.12., 12 bis 13 Uhr.

Weitere Infos auf der Website des Museums

Beitragsbild: Günter Grass in Neu Delhi, 1987, © Günter und Ute Grass Stiftung 

Autor: Willi Schewski

Fotograf. Blogger. Autor. Fotojournalist

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