Novemberpogrom: Solidarität mit Jüdischer Gemeinde Flensburg

Aufstehen – Widerstehen – Zusammenstehen.
Aufruf des „Forums der Religionen“ aus Anlass der Bombendrohung gegen die jüdische Gemeinde Flensburg

Was am 9. November 1938 passiert ist, liegt wie eine Scham noch heute über unserem Land. Bettina Goldberg

Am 10. November 2022, dem 84. Jahrestag der Pogrome der Nazis, ging eine Bombendrohung gegen die Flensburger Gemeinde bei der Polizei ein (inzwischen konnten zwei Tatverdächtige ermittelt werden 1). Der Zeitpunkt schien offenbar bewusst gewählt. Das „Forum der Religionen Flensburg“ rief am nächsten Tag spontan zu einer Solidaritätsveranstaltung für den Samstagabend (12.11.22) auf – und das mit großem Erfolg: 450 Menschen versammelten sich in der St. Nikolai Kirche. Mehrere Hundert Personen zogen anschließenden mit Kerzen in der Hand durch die Flensburger Einkaufsstraße bis zum Nordermarkt.

Vorab hatte das „Forum der Religionen Flensburg“ einen Aufruf veröffentlicht, darin hieß es:

Wir verurteilen diese Drohung auf das Schärfste. Mit der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wurden Antisemitismus und Rassismus staatsoffiziell. Die inszenierte Gewaltorgie war das Signal zum größten Völkermord in der Geschichte.

Auch in Flensburg wurden jüdische Geschäfte und Einrichtungen zerstört, Menschen mißhandelt und verschleppt. Damals schaute die Bevölkerung zumeist tatenlos zu.

Dies wird sich bei uns niemals wiederholen. Dafür stehen wir ein.
Als Mitbürgerinnen. Als Glaubensgeschwister. Als Flensburgerinnen.
Wer sich gegen die jüdische Gemeinde stellt, stellt sich gegen uns.

Wir bekunden unsere Solidarität.

Bevor es durch die Flensburger Einkaufsstraße am Holm und Große Straße ging, gab es eine Auftaktveranstaltung in der St. Nikolai Kirche am Südermarkt. Rebecca Lanz, Pröpstin, Evangelisch-Lutherischer Kirchenkreis Schleswig-Flensburg, Probstei Flensburg hielt die Begrüßungsrede. Es folgte eine Improvisation über ein jiddisches Lied. Marianne Anderson, Vorsitzende des Forums der Religionen Flensburg hielt eine Rede bevor es ein gelungenes Gebet von Imam Mehmet Sabinck & Ramazan Kapusuzoglu von der Eyyüp Sultan Moschee Flensburg gab.

Im Weiteren sangen Maja Lampkin & Traudl Bichel, Bahia. Es schloß sich eine Rede von Carl-Verner Hansen, Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage an. Dann sangen Oyfn Prpetshik und Gerold Jensen. Konfirmanden der St. Nikolai Flensburg hielten eine kurze Lesung. Dann wieder eine Musikdarstellung „Yerushalayim shel zahac“ von Gerold Jensen.

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Ein wenig Hintergrundwissen zu den Novemberpogrom in einem

Augenzeugenbericht, 9. November 1938, Kiel

Brief des Kaufmanns Mendel Czapnik aus Kiel, zitiert nach Historikerin Bettina Goldberg aus „Geschichte der jüdischen Minderheit in Schleswig‐Holstein“:

Was hier vorgekommen ist, kann man euch gar nicht schildern. Am Donnerstagmorgen um 4 Uhr, heute vor 8 Tagen, hat man die hiesige Synagoge in Brand gesteckt. Man hat das Innere im Sitzungssaal der Synagoge und im kleinen Schulzimmer und […] oben in der Synagoge alles verbrannt, darunter 9 Thorarollen.

Das Feuer war so stark, daß die Fensterscheiben geplatzt haben vor Hitze. Das Gebäude der Synagoge hat die Behörde in Beschlag genommen, die verbrannte Eingangstür und die offene Fenster mit Brettern verschlagen. Das ist die erste Tat“,

Dann hat man genommen sämtliche Juden, alle Männer von 20–60 Jahre ohne Ausnahme, von den Betten heraus und sie verhaftet. Dabei hat man zum Teil auch polnische Juden genommen und sie nachher herausgelassen. Es haben sich schreckliche Szenen abgespielt. […] Jeder einzelne hat geweint, man hat sich kaum fassen können vor Weinen.“ Quelle

Statt weiterer Worte – Musik: Niedeckens BAP „Kristallnaach“

1982 veröffentlicht – und aktueller denn je. Niedeckens BAP bringt mit seiner hochdeutschen Neuauflage von „Kristallnaach“ noch immer die großen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen auf den Punkt. Und ins Herz. Textauszug:

Kristallnacht

Es kommt vor, dass ich meine, da klirrt was,
dass sich irgendwas in mich verirrt hat.
Ein Geräusch, nicht mal laut,
manchmal klirrt es vertraut,
selten so, dass mans direkt durchschaut. Man wird wach, reibt die Augen und sieht innem Bild zwischen Breughel und Bosch
keinen Menschen der noch was auf Sirenen gibt,
weil Entwarnung nur halb soviel kostet.
Es riecht nach Kristallnacht.
…“

Foto: Symbol

(1) Nach einer Bombendrohung gegen die jüdische Gemeinde in Flensburg am 10. November sind zwei polizeibekannte Jugendliche ins Visier der Polizei geraten. Von einer politisch motivierten Tat werde nicht ausgegangen (Quelle)

»Wir sind erleichtert«, wird Gerschom Jessen, der Geschäftsführer der Gemeinde, im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen zitiert. »Dann ist sicher, dass es keine Leute waren, die uns gefährlich werden könnten.« (Quelle)

Beitrag am 5.12.22 aktualisiert

Autor: Willi Schewski

Fotograf. Blogger. Autor. Fotojournalist

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