Mariella Mehr ist gestorben – eine streitbare Publizistin und sensible Literatin mit einzigartiger Radikalität!

Am 05. September ist Mariella Mehr im Alter von 74 Jahren in Zürich gestorben. Sie wird als streitbare Publizistin und sensible Literatin mit einer für die Schweizer Literatur einzigartigen Radikalität in Erinnerung bleiben.

„Hat keinen Namen, Daskind. Wird Daskind genannt. Oder Kleinerbub, obwohl es ein Mädchen ist. Wenn den Frauen im Dorf danach zumute ist, wird es Kleinerbub genannt, oder Kleinerfratz, zärtlich. Auch Frecherfratz, wenn Daskind Bedürfnisse hat, oder Saumädchen, Hürchen, Dreckigerbalg.„ Mariella Mehr, „DasKind“.

Mariella Mehr wurde als Angehörige der Minderheit der Jenischen (1) 1947 in Zürich geboren. Sie war ein Opfer des Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse (2), das Kinder von ihren «fahrenden» Eltern zwangsweise trennte. Sie wuchs in 16 Kinderheimen und drei Erziehungsanstalten auf. Viermal wurde sie in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen, 19 Monate verbrachte sie in der Frauenstrafanstalt Hindelbank (4).

Ab 1975 publizierte sie, zunächst journalistisch, dann schriftstellerisch. Sie erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen. 1981 erschien ihr erster Roman (Steinzeit)

ich bin mein leben lang geschlichen. durch meine landschaft, mit dem bisschen leben unter dem arm, von dem ich immer meine, es gestohlen zu haben“ Zitat S. 41.

Ab den 1970er-Jahren engagierte sich Mehr für die Interessen der Roma, zu denen sie auch die Jenischen zählte. In einem Interview sagte sie 1982: «Das Roma-Volk setzt sich aus 29 Stämmen zusammen. Darunter sind die Jenischen ein relativ kleiner Stamm.» Im selben Interview erklärte sie, dass sie aus der jenischen Gemeinschaft «hinausgeschmissen» worden sei, weil sie Widerstand dagegen geleistet habe, dass die Frauen, die die Organisationen der Roma bzw. der Jenischen gegründet hätten, darin zurückgedrängt worden seien. (Quelle:  Rafaela Eulberg: «Sprache ist mein Zuhause». Interview mit der Romni-Schriftstellerin Mariella Mehr. In: Schlangenbrut, 21 (2003), Nr. 82, S. 21–25, hier: S. 25.)

Mehr war 1975 Gründungsmitglied der Radgenossenschaft der Landstrasse (5), in der sie, zunächst als Kassiererin, von 1976 bis 1982 als Sekretärin tätig war. Sie wirkte in den ersten Jahren zudem als Redaktorin der Genossenschaftszeitschrift «Scharotl», was eine jenische Bezeichnung für Wohnwagen ist.

In ihrem Buch «Kinder der Landstrasse» formulierte sie die Ziele der Jenischen auf programmatische Weise und betonte «die Versuche der Jenischen, ihre soziale und kulturelle Identität wiederzufinden». Quelle: Mariella Mehr: Kinder der Landstrasse. Ein Hilfswerk, ein Theater und die Folgen. Zytglogge-Verlag, Bern 1987, Darin Abschnitt: «Die Versuche der Jenischen, ihre soziale und kulturelle Identität wiederzufinden», S. 20.

An der Generalversammlung vom 5. März 1983 nahm sie nicht teil und wurde von der Versammlung nicht mehr als Mitglied des Verwaltungsrats wiedergewählt.

Mehr sah sich seither weniger als Schweizer als vielmehr als Roma-Schriftstellerin. (Quelle: Rafaela Eulberg: «Sprache ist mein Zuhause». Interview mit der Romni-Schriftstellerin Mariella Mehr. In: Schlangenbrut, 21 (2003), Nr. 82, S. 21–25.)

Aussenstehende schliessen daraus, dass sie in Romanes (6) schreiben würde. (Quelle:  Interviewfrage: «Schreibst du auch auf Romanes?» in Rafaela Eulberg: «Sprache ist mein Zuhause». Interview mit der Romni-Schriftstellerin Mariella Mehr. In: Schlangenbrut, 21 (2003), Nr. 82, S. 21–25, Frage S. 22; eine Frage nach der jenischen Sprache wird nicht gestellt.) Das ist bei einer Roma-Angehörigen aus dem Stamm der Jenischen nicht naturgemäss der Fall; Jenische haben eine eigene Sprache, das Jenische.

Mariella Mehr verstand gemäss demselben Interview Romanes, sie schrieb in Deutsch, Texte wurden ins Italienische übersetzt; Gedichte auch ins Romanes, übersetzt von Rajko Đurić. (Quelle:  Mariella Mehr: Nachrichten aus dem Exil / Nevipe andar o exilo, Gedichte / Gila. Übersetzungen ins Romanes von Rajko Djuric, Edition Niemandsland, Klagenfurt 1998. ISBN 3-85435-296-4.)

Für ihre schriftstellerische Leistung wie für ihr minderheitspolitisches Engagement erhielt Mehr 1998 die Ehrendoktorwürde der Universität Basel.

Nach zwanzig Jahren in der Toskana lebte Mehr seit 2015 wieder in der Schweiz. (Quelle)

Im Jahr 2000 trat Mehr aus der Autorenvereinigung Gruppe Olten aus, weil diese das Ziel, «eine demokratische sozialistische Gesellschaft» zu verwirklichen, aus dem Zweckartikel ihrer Statuten gestrichen hatte. Sie war Mitglied der International Romani Writers (IRWA), deren Vizepräsidentin sie zeitweise war. (Quelle)

Als Mariella Mehrs Hauptwerke sind die als »Trilogie der Gewalt« bezeichneten Romane »Daskind« (1995), »Brandzauber« (1998) und »Angeklagt« (2002). Die Romane stellen nicht nur die Opfer, sondern auch die Täterinnen in den Mittelpunkt. Im ersten Roman geht es um ein fremdplatziertes Kind, das mit Sprachverweigerung auf das feindliche Umfeld reagiert.

Textauszug: „Hat keinen Namen, Daskind. Wird Daskind genannt. Oder Kleinerbub, obwohl es ein Mädchen ist. Wenn den Frauen im Dorf danach zumute ist, wird es Kleinerbub genannt, oder Kleinerfratz, zärtlich. Auch Frecherfratz, wenn Daskind Bedürfnisse hat, oder Saumädchen, Hürchen, Dreckigerbalg.

Im Mittelpunkt des zweiten Romans („Brandzauber“) stehen zwei Erwachsene – eine Jüdin und eine Angehörige der Fahrenden –, die von ihrer Vergangenheit eingeholt werden.

Textauszug: „Man nannte es Handschrift. Man lernte eine Handschrift kennen, wenn die Hand zuschlug. Die Handschriften unterschieden sich. Ihre Botschaften zu verstehen, nahm Tage und Nächte in Anspruch. Oft begriff man sie nicht. Auch ich wollte eine Handschrift hinterlassen, ich wollte den Wohnwagen anzünden, in dem meine Mutter zwischen leeren Schnapsflaschen, schmutzigem Geschirr, randvollen Aschenbechern und Abfallen lebte. Vater kümmerte sich nicht mehr um sie, seit wir, die Kinder, in alle Winde zerstreut waren (…).

Im dritten („Angeklagt“) schließlich um eine Jugendliche, die sich als Brandstifterin für erlittenes Unrecht rächt. Nie gibt es ein Entrinnen aus der Gewaltspirale.

Textauszug:

„Mein Mund erwärmte sich
am Licht, er formte Widerworte.
Ich sang mein Leid und LIeb,
ich flog, mit Perlen
schwer behangen, in Glück
gewandet dem Gestirn entgegen,

das seines Schmucks bedurfte,
um für die nächsten Nächte
zu genesen.“

Mariella Mehr:Angeklagt. Roman. Nagel & Kimche, Zürich 2002.
Widerwelten. Gedichte. Deutsch / Romanes, übers. von Mišo Nikolic. Drava-Verlag, Klagenfurt, 2001. 

Mehr verstarb am 5. September 2022 im Alter von 74 Jahren im Zürcher Pflegeheim Entlisberg (Quelle)

Tragischerweise wird erst jetzt, kurz nach ihrem Tode, ihr neuestes Buch publiziert. Am 27. Oktober erscheint im Limmat Verlag unter dem Titel „Von Mäusen und Menschen“ ihre Rede zur Verleihung des Ehrendoktorats der Universität Basel. Thema: Mittäterschaft von Wissenschaftler-/ innen an der Entrechtung der Jenischen. Das kann spannend werden.

In diesem Blog wird über das Buch noch berichtet.

Werk

Steinzeit. Roman. Zytglogge Verlag, Gümligen 1981
In diesen Traum schlendert ein roter Findling. Gedichte. Zytglogge, Gümligen 1983
Das Licht der Frau. Bericht über Spanien und die Stierkämpferinnen. Zytglogge, Gümligen 1984
Silvia Z. Drama, uraufgeführt im Stadttheater Chur 1986
Kinder der Landstrasse. Drama, uraufgeführt im Theater 1230, Bern 1986
Kinder der Landstrasse. Ein Hilfswerk, ein Theater und die Folgen. Zytglogge, Gümligen 1987 (dokumentiertes Buch zur Aufführung)
Anni B. Drama. Aufführung im Theater Gessnerallee, Zürich 1989 (von der Autorin abgelehnte Aufführung)
Rückblitze. Zytglogge, Gümligen 1990 (Sammlung von Texten aus den Jahren 1976–1990)
Zeus oder der Zwillingston. Roman. R+F Verlag, Zürich 1994
Daskind. Roman. Nagel & Kimche Verlag, Zürich 1995
Brandzauber. Roman. Nagel & Kimche, Zürich 1998
Nachrichten aus dem Exil. Gedichte, zweisprachig (deutsch & romani). Übersetzung von Rajko Djuric. Drava Verlag, Klagenfurt 1998
Widerwelten. Gedichte, teilweise zweisprachig (deutsch & romani). Übersetzung von Miso Nikolic. Drava, Klagenfurt 2001
Angeklagt. Roman. Nagel & Kimche, Zürich 2002
Im Sternbild des Wolfes. Gedichte. Drava, Klagenfurt 2003
Daskind – Brandzauber – Angeklagt. Romantrilogie. Limmat, Zürich 2017
Widerworte. Geschichten, Gedichte, Reden, Reportagen. Herausgegeben von Nina Debrunner, Christa Baumberger. Mit Texten von Anna Ruchat, Martin Zingg, Fredi Lerch, Limmat, Zürich 2017
Von Mäusen und Menschen: Von Wissenschaft, Gutachtern und ihren Akten, Limmat, Zürich, erscheint Oktober 2022

Auszeichnungen

1981 Literaturpreis des Kantons Zürich für Steinzeit
1981 Förderungspreis des Kantons Bern für Steinzeit
1983 Literaturpreis der Stadt Bern für In diesen Traum…
1987 Literaturpreis der Stadt Bern für Kinder der Landstrasse
1988 Ida-Somazzi-Preis
1992 Anerkennungspreis des Kantons Graubünden (für das Gesamtwerk)
1995 Anerkennungspreis der Stadt Zürich (Gesamtwerk)
1996 Einzelwerkpreis der Schweizerischen Schillerstiftung für Daskind
1996 Ehrenmedaille der Gemeinde Tomils
1998 Ehrendoktorwürde der Universität Basel
2002 Buchpreise des Kantons und der Stadt Bern für Angeklagt
2012 ProLitteris Preis für ein literarisches Lebenswerk
2016 Bündner Literaturpreis
2017 Anerkennungspreis der Stadt Zürich
2018 Anna-Göldi-Menschenrechtspreis

Weiterführende Informationen / Quellen / Beschreibungen

Video: Schriftstellerinnenportrait Mariella Mehr (Link)

Quellen / Beschreibungen:

(1) Jenische ist sowohl eine Eigen- als auch eine Fremdbezeichnung für Angehörige eines nach landschaftlicher und sozialer Abkunft in sich heterogenen Teils der Bevölkerung in Mittel- und Westeuropa. Historisch lassen sich Jenische auf Angehörige der marginalisierten Schichten der Armutsgesellschaften der frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts zurückführen. Merkmale dieser historischen Jenischen waren ihr ökonomischer, rechtlicher und sozialer Ausschluss aus der Mehrheitsbevölkerung und eine dadurch bedingte Binnenmigration, meist innerhalb Europas. Jenischen zugeordnet wird eine eigentümliche Sprachvarietät, die aus dem Rotwelsch hervorgegangene jenische Sprache.

(2) Das Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse entstand 1926 als Projekt der halbstaatlichen schweizerischen Stiftung Pro Juventute (siehe 3). Sie wurde unter der Leitung von Alfred Siegfried auf die Beine gestellt mit der von ihm formulierten Intention: «Wer die Vagantität erfolgreich bekämpfen will, muss versuchen, den Verband des fahrenden Volkes zu sprengen, er muss, so hart das klingen mag, die Familiengemeinschaft auseinanderreissen». Mit Unterstützung der Vormundschaftsbehörden wurden Kinder von Fahrenden, insbesondere Jenischen, und ihre Familien, systematisch und gegen den Willen der Betroffenen, gewaltsam auseinandergerissen. Bis 1972, als das Projekt nach öffentlichem Druck eingestellt wurde, waren davon rund 600 Kinder betroffen. Ziel von Kinder der Landstrasse war es, die Kinder dem Einfluss der als asozial beurteilten minderheitlichen Lebensverhältnisse zu entfremden und sie an die vorherrschende mehrheitsgesellschaftliche Lebensweise anzupassen. Ein weiteres Ziel war die Entwicklung der Kinder zu «brauchbaren» Arbeitern für die Gesellschaft. Das «Hilfswerk» wurde 1973 aufgelöst.

(3) Pro Juventute (lat. «Für die Jugend») ist eine im Jahr 1912 gegründete Schweizer Stiftung, die sich dafür einsetzt, dass Kinder, Jugendliche und ihre Familien in ihrem Alltag unterstützt und gefördert werden und dass diese in der Not rasch Unterstützung erhalten. Auch macht sich die Stiftung für Kinderrechte stark und engagiert sich für förderliche Rahmenbedingungen für Familien in der Schweiz. Die Organisation ist politisch, ideologisch und konfessionell unabhängig und finanziert sich massgeblich über Spendengelder aus der Bevölkerung und Zuwendungen aus der Wirtschaft. Die Organisation trägt seit 1942 das ZEWO-Gütesiegel, das den wirtschaftlichen, zweckbestimmten und wirkungsvollen Einsatz von Spendengeldern sowie eine transparente Organisationen mit funktionierenden internen und externen Kontrollstrukturen bescheinigt. Über die Schweiz hinaus bekannt wurde die Stiftung durch den 1972 aufgedeckten Skandal um die Kindeswegnahmen im Rahmen des Projekts Kinder der Landstrasse (siehe 2).

(4) Die Anstalten Hindelbank (früher Schloss Hindelbank) waren von 1896 bis 1911 war eine Zwangsarbeitsanstalt für Weiber und anschliessend eine Arbeits- und Strafanstalt für Frauen. Von Beginn an wurden auch Personen zur «Administrativen Versorgung» eingeliefert, wenngleich der Begriff noch nicht gebräuchlich war. 1959 wurde die Konkordantsanstalt mit Erstmaligen- und Rückfälligenabteilung erbaut und erhielt ihren heutigen Namen: Anstalten Hindelbank. 1995 bis 1997 wurde die ganze Strafanstalt für 16 Millionen Schweizer Franken teilsaniert. Dazu gehört eine anstaltsinterne Gärtnerei. Seit 1. Mai 2011 leitet Annette Keller die Anstalten Hindelbank.

(5) Die Radgenossenschaft der Landstrasse wurde 1975 als Selbstorganisation der Schweizer Minderheit der „Fahrenden“ gegründet. Damit ist sie die älteste der heutigen Selbstorganisationen von Jenischen und Sinti in Europa. Sie ist als Dachorganisation der „Fahrenden“, womit sowohl Jenische als auch Manusch (Sinti) mit Schweizer Staatsbürgerschaft gemeint sind, staatlich anerkannt. Am schweizerischen öffentlichen und rechtlichen Diskurs zu diesen Minderheiten nimmt sie mit gewichtigen und anerkannten Beiträgen teil. Als Teilnehmerin staatlich getragener Beratungen spielt sie eine anerkannte Rolle. Heute definiert sie sich als „Dachorganisation der Jenischen und Sinti, die nationale Minderheiten der Schweiz sind“.

(6) Das Romani, auch Romanes genannt, ist eine zur indoarischen Unterfamilie der indogermanischen Sprachfamilie gehörende, in unterschiedlichen Dialekten vorkommende Sprache, die mit Sanskrit und anderen indischen Sprachen verwandt ist. Die internationale Norm ISO 639 klassifiziert das Romani als sieben Einzelsprachen, die in einigen Verwendungszusammenhängen zu einer Makrosprache zusammengefasst werden können. Da die Fremdbezeichnung „Zigeuner“ besonders im öffentlichen Sprachgebrauch als diskriminierend gilt, gilt dies auch für die früher oft gebräuchliche Bezeichnung des Romani als „Zigeunersprache“ (Quelle).

Beitragsfoto: Mariella Mehr © Ayşe Yavaş; Quelle: Limmat Verlag

Autor: Willi Schewski

Fotograf. Blogger. Autor. Fotojournalist

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