Flensburg: Stolperstein Rathausstraße 2 (Alte Post)

Die Stolpersteine sind ein Projekt des Künstlers Gunter Demnig, das im Jahr 1992 begann. Mit im Boden verlegten kleinen Gedenktafeln, sogenannten Stolpersteinen, soll an das Schicksal der Menschen erinnert werden, die in der Zeit des Nationalsozialismus (NS-Zeit) verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben wurden. Die quadratischen Messingtafeln mit abgerundeten Ecken und Kanten sind mit von Hand mittels Hammer und Schlagbuchstaben eingeschlagenen Lettern beschriftet und werden von einem angegossenen Betonwürfel mit einer Kantenlänge von 96 × 96 und einer Höhe von 100 Millimetern getragen. Sie werden meist vor den letzten frei gewählten Wohnhäusern der NS-Opfer niveaugleich in das Pflaster bzw. den Belag des jeweiligen Gehwegs eingelassen.

Die Flensburgerin Johanne Ebsen starb 1944 bei nationalsozialistischen Euthanasie-Verbrechen. Auf dem am 6.3.14 verlegten Stolperstein steht:

„Hier wohnte Johanne Marie Ebsen
geb. Albertz
Jg. 1881
Eingewiesen 1929
Psychiatrie Schleswig
‚Verlegt’ 14.9.1944
Meseritz/Obrawalde
Ermordet 30.9.1944″

Der Stolperstein in Gedanken an Johanne Marie Ebsen wurde auf Initiative der Enkelin, Ursula Carr, am 06.03.2014 verlegt. Wer war Johanne Marie Ebsen? Johanne Marie Ebsen wurde 1881 geboren, sie war Mutter von 3 Kindern. Johanne Marie und ihr Mann (Postbeamter) wohnten im selben Gebäude, wo auch ihr Mann arbeitet: im Postgebäude, in der Rathausstraße 29 (mehr über die Rathausstraße, hier im Blog). Johanne Maries Mann arbeitete dort als Leiter.

1928 änderte sich ihr Leben schlagartig: sie wurde wegen einer psychischen Erkrankung in die Kieler Nervenklinik eingewiesen. Ihre Eingangsdiagnose lautete „Eifersuchtsneurose“ (mehr darüber in diesem Buch). Damit war ihr Schicksal besiegelt. Sie kam aus der Anstalt nie wieder heraus und hat auch ihre Kinder nie wieder gesehen.

1933 ließ sich Johanne Maries Ehemann von ihr scheiden und heiratete seine 25 Jahre jüngere Sekretärin.

Nach 6 Monaten wurde Johanne Marie in die geschlossene Psychiatrie in Schleswig (1) verlegt. Die dort untergebrachten 697 geistig behinderten und psychisch kranken Patienten wurden für das NS-Euthanasie-Programm berüchtigte Meseritz-Oberwald in Brandenburg verbracht, wo sie mit einer Giftspritze ermordet wurden.

Ermordung am 30.9.1944

Auch Johanne Marie wurde nach Meseritz-Oberwald in Brandenburg (2) verbracht. Dies geschah am Abend des 14. September 1944. Die 697 Patienten (davon 53 Jugendliche) der Heil- und Pflegeanstalt am Stadtfeld und der Landespflegeanstalt Hesterberg wurden durch die Stadt zur Rampe des Güterbahnhofs geführt. Sie trugen an ihren Füßen Holzpantinen. In der Landesheil- und Pflegeanstalt Obrawalde bei Meseritz in Pommern erwartete sie der Tod, so auch auf Johanne Marie.

Todesmitteilung und kein Sarg und keine würdige Bestattung

Am 1. Oktober 1944 wird Johanne Maries Familie per Telegramm mitgeteilt, dass sie am 30. September 1944 in der Landeskrankenanstalt Meseritz-Obrawalde an „Herzschwäche“ verstorben sei.

In dem folgenden Schreiben von Anstaltsdirektor Dr. Walter Grabowski (1) wurde die Überweisung von 188 Reichsmark für „Sarg, Beerdigung und Grabpflege“ verlangt.

Tatsächlich bekamen die Toten keinen Sarg und keine würdige Bestattung, von Grabpflege ganz zu schwiegen. Die umgebrachten Menschen wurden eingeäschert und in einem Massengrab verscharrt.

(1) Schleswig: Nach dem Kriegsende – Keine Verurteilung!

Nach dem Kriegsende standen die beteiligten Schleswiger Ärzte eine Zeit lang im Fokus staatsanwaltlicher Ermittlungen. Doch es kam zu keiner Verurteilung. Mit einer Ausnahme nahmen sie ihre Position wieder ein. Dr. Carl Grabow zum Beispiel amtierte als ärztlicher Direktor von 1936 bis 1951. Das alles: ein Skandal, auch heute noch. In der nationalsozialistischen Katastrophe wurden Menschen zu „Lebensunwerten“. Unter Suadicani und Jessen waren aus „Wahnsinnigen“ Menschen geworden. (Quelle)

(2) Mehr über die Heil- und Pflegeanstalt Obrawalde: Bis 1945 starben dort mindestens 10 000 Menschen. Der Ort liegt heute in Westpolen. In einem Raum der Anstalt, die als psychiatrisches Krankenhaus fortgeführt wird, ist ein kleines Museum zum Gedenken an die Euthanasie-Opfer der NS-Diktatur eingerichtet worden. Gezeigt wird auch die Transportliste der Schleswiger Patienten, auf der Johanne Marie Ebsens Name zu lesen ist.

Verurteilung Heil- und Pflegeanstalt Obrawalde: einige Hinrichtungen

Im Gegensatz zur Anstalt in Schleswig kam es in Obrawalde zu Verurteilungen, teils rabiat: So wurde Oberpflegerin Amanda Ratajczak von den Sowjets verhaftet und gab zu, über 2500 Menschen umgebracht zu haben. (Quelle)  

Später wurde sie in Meseritz vor ein sowjetisches Kriegsgericht gestellt und zusammen mit dem Pfleger Hermann Guhlke, der ebenfalls für schuldig befunden wurde, standrechtlich erschossen.

Hilde Wernicke wurde am 10. August 1945 verhaftet. Ihr wurde gemeinsam mit der Pflegerin Helene Wieczorek am Landgericht Berlin ein Prozess wegen der Beteiligung an Euthanasieverbrechen gemacht, der am 26. März 1946 mit einem Todesurteil endete. Beide wurden am 14. Januar 1947 im Zellengefängnis Lehrter Straße mit dem Fallbeil hingerichtet.

Im Münchener Euthanasie-Prozess von 1965 lautete die Anklage auf heimtückische gemeinschaftliche Tötung von Menschen aus niedrigen Beweggründen bzw. auf Beihilfe zum gemeinschaftlichen Verbrechen des Mordes. (Quelle)

Hauptangeklagte waren:

  • die Abteilungsoberschwester Luise Erdmann, 63, in 210 Fällen,
  • die Forstarbeiterin Margarete Tunkowski, 54, in 200 Fällen,
  • die Krankenschwester Erna Elgert, 58, in 200 Fällen,
  • die Krankenschwester Martha Winter, 56, in 150 Fällen.

Die weiteren 14 angeklagten Krankenschwestern und Pfleger wurden von der Anklage der Beihilfe zum Mord an etwa 8000 Euthanasie-Opfern freigesprochen. Nach Ansicht des Gerichts reichten die Beweise nicht aus. (Quellen 1, 2)

Flensburg: Stolperstein Rathausstraße 2 (Alte Post)

Autor: Willi Schewski

Fotograf. Blogger. Autor. Fotojournalist

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