Sagen und Legenden in Schleswig-Holstein: Die Lüngsage – Jens Lüng

Über das Land zwischen Nord- und Ostsee ranken sich zahlreiche Sagen und Legenden. Besonders die Halligen, Inseln, Seeleute -und nicht zuletzt das Meer- bieten Stoff für zahlreiche Geschichten, die bis heute jedes Kind in Schleswig-Holstein kennt.

Als Jens Lüng auf List wohnte, kam einst ein fürchterlicher Sturm und ein so hohes Wasser, daß ganz List unterging bis auf die Kirche und Jens Lüngs Haus; alle Leute daselbst ertranken bis auf Jens Lüng und eine Jungfrau Mett oder Merret.

Obgleich in der verwüsteten Gegend sonst keine Menschen mehr waren, gingen Jens und Mett, die nun seine Frau wurde, sonntags wie früher zur Kirche. Da kein Prediger und kein Küster erschien, denn auch diese waren ertrunken, stimmte Jens einen Gesang an, und Mett hielt ein Gebet. So lebten sie viele Jahre auf List in Gottesfurcht und Frieden.

Dann aber kamen die Dänischen und wollten das ganze Listland haben; zwei Fanöer bauten sich Häuser auf Meelhörn. Und die Dünen begannen, die Kirche zu verschütten. Da grämte sich Jens fast tot. „Nein„, sprach er, „ich halte es hier nicht länger aus!“ Er brach seine Hütte ab, belud seinen großen Ewer mit seinen Sachen, trug den Altar und die Altargeräte aus der Kirche auf sein Schiff und

segelte, um kein Aufsehen bei den Dänen zu erregen, in der Nacht von List ab. Er hatte im Sinne, sich in dem Wardüntal auf Hörnum ein Haus zu bauen, an der Stätte, wo die alte Kapelle von Wardün ehemals gestanden hatte, und in dem Ostende seiner neuen Wohnung wollte er seinen Altar wieder aufrichten.

Während er längs der Westseite der Insel südwärts steuerte, kam sein Schiff in der Dunkelheit dem Strande bei Alt-Rantum etwas nahe und blieb da sitzen. Es würde dieser Umstand wahrscheinlich den Rantumern unbekannt geblieben sein, wenn nicht Jens Lüng einen Hahn an Bord gehabt hätte. Durch sein Krähen in der frühen Morgenstunde weckte das Tier die dem Strande zunächst wohnenden Leute aus dem Schlafe, und sobald diese das gestrandete Schiff bemerkten, eilten sie an das Ufer.

Sie wollten Jens überreden, seine Ladung ans Land zu bringen, allein Jens Lüng traute ihnen nicht und meinte, die Flut würde sein Schiff bald wieder flott machen. Er war überdies ein großer, starker Mann und wehrte die Rantumer ab, so gut er konnte. Gleichwohl vermochte er nicht zu verhindern, daß sie seine kostbaren Altargeräte, als silberne Leuchter, Kelche und Schalen samt seinem wachsamen, schön gefiederten Hahn stahlen.

Die Rantumer hatten nie früher einen so schönen Vogel gesehen und freuten sich anfänglich sehr über ihn. Sie sollen damals zwei Kirchen, die Westerseekirche und die Ratsburgkapelle, aber in vielen Jahren keinen Prediger gehabt haben und lebten daher ungefähr wie die Heiden. Als nun der Hahn sie alle Morgen durch sein Geschrei zum frühen Aufstehen und zur Arbeit ermunterte, nannten sie ihn ihren Prediger.

Einige meinten sogar, daß er sie zum Glauben an Gott und zum Gebet auffordere, indem er, wie sie wähnten, alle Augenblicke riefe: „Kiek in de Höh, Höh!“ Manche mögen wirklich durch das unvernünftige Tier auf bessere Gedanken gekommen sein; die aber im Bösen beharrten, haßten und verfolgten jetzt wegen seiner vermeintlichen Mahnungen den armen Hahn.

Unterdes war Jens Lüngs Schiff, als die Flut wiederkehrte, wirklich flott geworden. Jens segelte weiter südwärts und fuhr durch das Hörnumgatt in die Bucht am Buder. Unweit Großvlie legte er sich vor Anker.

Ungestört, aber auch ohne Hilfe begann er nun, sein Schiff auszuladen und sein neues Haus im Wardüntal zu bauen. Mit den Rantumern wollte er nichts mehr zu tun haben. Besonders übel rechnete er es ihnen an, daß sie, wie er gehört hatte, in der Westerseekirche spielten und tanzten und aus den ihm geraubten geweihten Gefäßen Bier soffen.

Im übrigen lebte er mehrere Jahre in Ruhe und Frieden in seiner neuen Wohnung im Wardüntal und diente Gott an seinem eigenen Altar nach seiner eigenen Weise. Seine Frau gebar ihm hier zwei Kinder, einen Sohn Jakob und eine Tochter Ellen. Alles währet seine Zeit, und Jens Lüngs Ruhe und Glück währte nur kurze Zeit.

Der Papst bekam zu hören, daß die Rantumer und die meisten Leute auf Sylt so gottlos und heidnisch und daß keine christlichen Priester auf der Insel seien. Da schickte er Boten an den König von Dänemark mit der Bitte, er möchte das geistliche Regiment über alle Kirchen auf Sylt in Ordnung bringen, der Papst wolle alsdann für jeden Altar einen Prediger senden.

Nun kam Jens Lüng daran zu denken: ich habe ja auch einen Altar; die Päpstlichen könnten mir mein Haus nehmen und für sich zu einer Kapelle einrichten, oder die diebischen Rantumer, die selber keinen unbefleckten Altar mehr haben, könnten mir meinen rauben wollen.

Um allen Verdrießlichkeiten vorzubeugen, schenkte er seinen teuren Altar daher der Kirche zu Eidum, die nördlicher als die Westerseekirche lag und nur einen kleinen Marienaltar hatte. In Zukunft wollte er an dem Gottesdienst in dieser Kirche teilnehmen.

Bald darauf erhielten die Gotteshäuser auf Sylt wieder christliche oder päpstliche Prediger, die Westerseekirche, die Eidumer, die Keitumer und die Morsumer Kirche bekamen je zwei Geistliche; außerdem soll je ein Prediger für das untergegangene Kirchlein auf List und für die Ratsburgkapelle gesendet worden sein.

In den vielfältig entweihten und beschmutzten Kirchen mußten nun große Reinigungen und Veränderungen vorgenommen werden. Auf die Altäre stellte man die Bildnisse der Apostel, der Mutter Maria und irgendeines Heiligen und ließ sie neu anstreichen oder gar vergolden. Man machte sogar Versuche, durch hölzerne oder vergoldete Bilder die dreieinige Gottheit selber darzustellen.

Dann wurden die Altäre aufs neue geweiht: die Westerseekirche wurde St. Peter, die Ratsburgkirche St. Maria, die Eidumkirche St. Nikolai, die Keitumkirche St. Severin und die Morsumkirche St. Martin genannt. Das neugierige und abergläubische Volk aber wurde aufgefordert, künftig nicht bloß Gott und Jesum, sondern auch die Mutter Maria, die heiligen Apostel und andere Märtyrer, ja, sogar deren Bildnisse anzubeten, widrigenfalls drohte man mit Verbannung, Fegefeuer und höllischen Strafen.

Wegen der einsamen Lage seines Hauses erfuhr Jens Lüng von all dem wenig. Gleichwohl war er gottesfürchtig und heilsbegierig wie früher, und eines Tages beschloß er, an dem nächsten Sonntage dem neueingerichteten Gottesdienste in der Eidumkirche beizuwohnen.

Auf seinem Gange dorthin mag er vielleicht gedacht haben, daß ihm wegen seines Altars große Ehre zuteil werden würde. Voller Sehnsucht nach einer würdigen Gottesverehrung und voller Erwartung trat er in die Kirche.

Allein wie bitter wurde er enttäuscht! Seinen Altar erkannte er nicht mehr; der war nicht nur neu bemalt, sondern gänzlich verändert worden. Auf das Mittelstück des Altarblattes, Gott dem Vater und der Mutter Maria zur Seite, hatte man zwei rohe Figuren gestellt, die man als zwei dänische Heilige bezeichnete, nämlich als St. Jürgen und St. Niels. Jens Lüng glaubte, vor Ärger und Schande samt seinem Altar in die Tiefe versinken zu müssen.

Als nun gar die betörte Menge vor diesen Bildern niederfiel und nach dem Beispiel und der Anweisung der Priester bald die Mutter Maria, bald St. Jürgen und bald den heiligen Niels anflehte und dabei allerlei wunderliche Handlungen den Priestern nachahmte, ergriff Entsetzen und Entrüstung den frommen, schlichten Greis.

Aufrecht stand er unter der in blinden Götzendienst versunkenen Menge. Er wurde aufgefordert, ebenfalls seine Knie zu beugen vor den Heiligen und den Bildern. Da sprach er: „Lebend nicht!“ – zog sein Messer aus der Scheide und stieß es sich selber in die Brust. Mitten in der Kirche stürzte er nieder mit dem Ruf: „Lieber tot, als Sklave der Priester!“

Die Eidumkirche fiel 1634 bei Nacht und stillem Wetter zusammen. Aus ihren Trümern baute man 1635 das alte Westerländer Gotteshaus. So kommt es, daß der Altar der ehemaligen Altlister Kirche jetzt in Westerland steht.

Das Mittelstück des Altarblattes mit den in der Sage erwähnten vier Figuren wurde 1892 durch ein Gemälde ersetzt und hängt heute an der Nordwand nahe am Eingang. Die Figuren sind 1856 neu vergoldet worden.

Die Stätte der letzten Eidumer Kirche (siehe Foto) aber liegt seit langem im Meer. Die Düne, die über sie hinweggeschritten ist, führt im Volksmunde den Namen Altkirchendüne.

Quelle:Wilhelm Jessen, Sylter Sagen, nach den Schriften des Heimatforschers C. P. Hansen, Westerland auf Sylt, 1925

Beitragsfoto: St. Nicolai von Süden gesehen / Von Uwe Barghaan – Eigenes Werk, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5141201

Autor: Willi Schewski

Fotograf. Blogger. Autor. Fotojournalist

Ein Gedanke zu „Sagen und Legenden in Schleswig-Holstein: Die Lüngsage – Jens Lüng“

Kommentar verfassen

Bitte logge dich mit einer dieser Methoden ein, um deinen Kommentar zu veröffentlichen:

Gravatar
WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

%d Bloggern gefällt das: