Ehemalige RAF-Terroristin Inge Viett ist tot –  Traumatische Kindheit & Jugend in Schleswig-Holstein

Inge Viett ist eine ehemalige RAF-Terroristin. Am 9. Mai 2022 ist sie im Alter von 78 Jahren verstorben. In diesem Blogbeitrag geht es weniger um die Verbrechen der Inge Viett als um ihre Kindheit und Jugend. Diese verbrachte sie in Schleswig-Holstein und die war traumatisch

Inge Viett wurde am  12. Januar 1944 in Stemwarde, ein Ortsteil von Barsbüttel im Kreis Stormarn geboren. „Ihre Kindheit war ein reiner Alptraum. Kein anderer von mir analysierter RAF-Terrorist hatte eine derart traumatische Kindheit, die man sich als Aschenputtel-Horrorinszenierung vorstellen kann, ohne Happy Ende“, schreibt der Unternehmer, Forscher, Blogger und Autor (1) Sven Fuchs bei Twitter. In diesem Beitrag geht es weniger um die Rechtfertigung von Terror und Gewalt durch kriminelle Erwachsene sondern alleine um Erklärung und die Auflösung der Frage, wie konnte das geschehen? Wie konnte jemand so werden? Die Spuren beginnen immer in den Kindheit späterer Verbrecher-/ innen. Fangen wir also an:

Nachdem das Jugendamt ihrer Mutter das Sorgerecht entzogen hatte, lebte Inge Viett ab 1946 zunächst in einem Kinderheim in Schleswig-Holstein. Im März 1950 kam sie zu einer Pflegefamilie in ein Dorf bei Eckernförde. Viett schilderte die Zeit und insbesondere die Erziehung durch ihre Pflegemutter als sehr belastend.

Durch einen Bauern aus der Nachbarschaft kam es zu einer Vergewaltigung. Sie besuchte die Volksschule des Dorfes. Nach neun Jahren floh sie aus der Pflegefamilie. Mit Unterstützung des örtlichen Pfarrers erhielt sie für ein Jahr einen Platz beim Jugendaufbauwerk in Arnis, wo sie in Hauswirtschaft und Kinderpflege unterrichtet wurde.

Das Jugendamt schickte Viett dann auf die Kinderpflegerinnen-Schule nach Schleswig. Sie selbst wollte Sportlehrerin werden und beschrieb die Ausbildung zur Kinderpflegerin später als „gräßlich“. Die Situation führte bis zu einem Suizidversuch.

Die Ausbildung setzte sie jedoch fort und ging zur Absolvierung eines Anerkennungsjahres als Kindermädchen zu einer wohlhabenden Familie nach Hamburg. Hier litt Viett unter dem als autoritär empfundenen Familienvater. In diesem Zeitraum hatte sie ein Verhältnis mit einer etwa 20 Jahre älteren Erzieherin in Schleswig, die auch ihre Vormundschaft übernahm und ihr den Besuch der Sportschule ermöglichte.

Es schloss sich eine Beziehung zu einem US-Soldaten afroamerikanischer Herkunft an. 1963 nahm sie ein Sport- und Gymnastikstudium an der Universität Kiel auf, das sie nach sechs Semestern, kurz vor dem Abschluss, abbrach. Viett ging dann nach Hamburg und strippte zwei Monate auf St. Pauli.

Mit einer Lebenspartnerin zog sie nach Wiesbaden und arbeitete dort als graphische Hilfskraft. Nach der Trennung schlug sie sich mit verschiedenen Aushilfsarbeiten durch. 1968 zog Viett nach West-Berlin und lebte in einer Frauenwohngemeinschaft in der Eisenbahnstraße 22 in Kreuzberg. Sie beteiligte sich an Versammlungen, Demonstrationen und Aktionen der APO.

Radikalisierung, Verhaftung

In den folgenden Jahren radikalisierte sie sich Stück für Stück. Sie schloß sich zunächst der „Bewegung 2. Juni“ an und 1980 der Rote Armee Fraktion (RAF). Viett verübte in der Folge mehrere schwerere Verbrechen, darunter versuchten Mord.

1982 tauchte sie in der DDR unter. Am 12. Juni 1990, also kurz vor der Deutsch-Deutschen Wiedervereinigung, am 3. Oktober 1990, wurde Viett im Eingangsbereich ihres Wohnhauses auf dem Weg zum Aufzug verhaftet und in die BRD überführt.

1992 erhielt sie wegen versuchten Mordes eine Freiheitsstrafe von dreizehn Jahren. Nach ihrer vorzeitigen Entlassung 1997 trat sie als radikale Aktivistin und Autorin in Erscheinung und kam immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt. Von Distanzierung von Gewalt und dem Geist der RAF zeigte Viett keinen Anlass.

In ihrer Autobiografie schreibt sie auf Seite 7: „So beginne ich denn meine Geschichte niederzuschreiben, als Teil der Überlebensstrategie“ (im Knast – Anm. Verf.). Kein Opfer ist also der Grund, keine Erkenntnis etwaiger Irrtümer, keine Kritik an ihrem Leben, keine hinterfragende Reflektion ihrer Taten, kein Mitleid, kein Einfühlungsvermögen, sondern nur der pure Überlebensegoismus – und: „Ich habe all die Jahre nicht das geringste Bedauern für den niedergeschossenen Polizisten empfinden können.

Über das Opfer ist Folgendes bekannt: In Paris, wo Viett 1981 illegal lebte, schoss sie 1981 aus nur vier Metern Entfernung mehrfach auf den Polizisten Francis Violleau. Der Beamte erlitt eine Querschnittslähmung und starb 2000 im Alter von 54 Jahren an den Folgen der Verletzung. (Quelle)

Inge Viett starb am 9. Mai 2022 im Alter von 78 Jahren in der Nähe von Berlin.

Fazit / Bilanz

Der Kindheitsforscher und Autor Sven Fuchs hat sich in seinem Buch „Die Kindheit ist politisch!: Kriege, Terror, Extremismus, Diktaturen und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen“ und Blog ausführlich mit den Kindheitserfahrungen von Inge Viett beschäftigt. Er beschreibt Vietts Kindheit als unfassbar traumatisch. Er habe „selten über Kindheitserfahrungen gelesen, die so massiv und komplex traumatisch waren. 

Fuchs: „Wie ihre Kindheit aussah, beschreibt sie letztlich selbst: Totale Unfreiheit, Entscheidungslosigkeit, unwürdigen Anpassungsdrang, Will- und Orientierungslosigkeit, in Krankheit, Vereinsamung und Lebensunlust.

Psychotherapie als Lösung?

Fuchs schreibt in seinem Buch, Seite 188 (Text vor Vietts Tod entstanden): „Ein guter und konstruktiver Weg wäre mit Verlaub gewesen, sich psychotherapeutisch mit dem erfahrenen Kindheitsleid zu befassen, in einem therapeutischen Prozess die Stiefmutter emotional niederzuringen, sich ihrer fortwirkenden Macht (Täterintrojekte) zu entziehen und sich dann wirklich emotional zu befreien. Gegen Ungerechtigkeiten in der Welt hätte Inge Viett danach immer noch kämpfen können, aber dann mit deutlich weniger Hass und explosiver Sprengkraft im Gepäck und natürlich ohne Gewalt. Nun, sie hat sich anders entschieden und muss die Verantwortung für ihr Handeln tragen, trotz ihrer Kindheitsgeschichte.“

Und Fuchs findet folgende, überzeugende Abschlussworte: „Hier (wurde) ein Mensch vom Opfer zum Täter … und diese Erkenntnis ist wiederum wichtig für Prävention.“ (Quelle)

Weiterführende Quellen:

Inge Viett: Nie war ich furchtloser (1999); Zitat: „Nie in meinem Leben war ich sicherer und furchtloser als in dieser Zeit im Untergrund. Dem Ort, der ein neues anderes Sein außerhalb der hässlichen Welt gestattete. Nie war ich freier, nie war ich gebundener an meine eigene Verantwortung als in dem Zustand völliger Abnabelung von der staatlichen Autorität und von gesellschaftlichen Vorgabe. Kein Gesetz, keine äußere Gewalt bestimmte mehr mein Verhältnis zur Welt, zu meinen Mitmenschen, zum Leben, zum Tod.

Autor: Willi Schewski

Fotograf. Blogger. Autor. Fotojournalist

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