Gebäude erzählen Geschichten: Johannisstraße 9, Flensburg

Wenn Gebäude reden könnten, würden sie die vielfältigsten, buntesten und verrücktesten Geschichten erzählen können. Das Leben spielt sich in den Gebäuden ab, seit Generationen und Epochen. Ob Dramen, Feste oder banaler Alltag, viele der Gebäude wahrten ihr würdiges Gesicht, während im Innern das Leben seine Spuren hinterließ. Ein Name ist bei der Recherche um die Geschichte des Gebäudes unangenehm aufgefallen: Hartmut von Hentig

Man erkennt es nicht sofort, das Gebäude in der Johannisstraße 9 in Flensburg, ist eine Städtische Bildungs- und Erziehungseinrichtung, in der rund 40 Kinder aller Kontinente im Alter von 3 bis 6 Jahren von 4 Erzieherinnen betreut werden. Interessant ist die Geschichte des Gebäudes, das in einer zentraler Altstadtlage liegt, im sogenannten Johannisviertel (1).

1837 wurde auf Initiative von Dr. med Höst, Pastor Arnold und vom “Verein der Kleinkinderschulen” in der Johannisstraße (2) die erste Kleinkinderschule gegründet, mit diesem Ziel: “sich um arme, kleine und verwahrloste Kinder in der Stadt zu kümmern, sie unter Aufsicht und Pflege zu stellen und so dem geistigen und leiblichen Verderben zu entreißen”.

Aus Kostengründen musste die Kleinkindschule jedoch zu Beginn der Inflation nach dem 1. Weltkrieg geschlossen werden bis schließlich 1925/26 die Stadt Flensburg die Trägerschaft übernahm.

Was auf dem ersten Blick positiv anhört („geistigen und leiblichen Verderben zu entreißen”) war in der Nachbetrachtung nichts anderes als Erziehung mit Gewalt. Schläge und psychische Demütigungen galten in Deutschland seinerzeit als pädagogischer Stil. Es musste lange dauern bis sich dieser Stil wandelte und eine gewaltfreie Erziehung in Schulen und Elternhäusern Einzug hielt.

Erst seit dem Jahre 2000 haben Kinder in Deutschland ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. „Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigen- de Maßnahmen sind unzulässig“, heißt es seit November 2000 in § 1631 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches.

Heute erinnert eine Tafel an die Gründer

Neuzeit

Heute werden in dem Haus in der Johannisstraße 9 Kinder mit einem erhöhten Förderbedarf durch externe Heilpädagogen und Sprachförderkräfte zusätzlich begleitet.

Zu den Qualitätsstandards der Einrichtung heißt es in der Selbstbeschreibung: „Die Kindertagesstätte ist ein Spiel- und Lernort. Wir teilen den pädagogischen Grundsatz mit dem Pädagogen Hartmut von Hentig*: `Lernen heißt, soviel Belehrung wie möglich durch Erfahrung zu ersetzen`. Damit ermöglichen wir den Kindern Prozesse der selbsttätigen und selbständigen Wissensaneignung. Kinderrechte und Partizipation sind die Basis unserer Arbeit mit den Kindern.“ Quelle: Website Stadt Flensburg, Zugriff 7.6.22

*Bei der Betrachtung der Eigendarstellung der eben genannten Qualitätsbeschreibung der Einrichtung (die ja im ersten Moment positiv klingt), fällt, wieder bei Nachbetrachtung, der Name Hartmut von Hentig. War da nicht mal was? Hartmut von Hentig, 1925 in Posen geboren, ist ein deutscher Erziehungswissenschaftler und Publizist und galt vor allem in der westdeutschen Reformpädagogik seit den 1960er Jahren als einflussreich.

Im Kontext mit den 2010 bekannt gewordenen Fällen von sexueller Gewalt an der Odenwaldschule war und ist von Hentig als langjähriger enger Freund und Lebensgefährte des damaligen Schulleiters Gerold Beckers (* 12. April 1936 in Stettin; † 7. Juli 2010 in Berlin) öffentlicher Kritik ausgesetzt. Becker gilt als Hauptbeschuldigter (3., 4.).

Laut einer im Jahr 2019 veröffentlichten Studie der Universität Rostock über das System der sexualisierten Gewalt gegenüber Kindern an der Odenwaldschule soll Becker allein mindestens gegen 200 Schüler sexuelle Gewalt ausgeübt haben.

Von Hentig seinerseits soll in seiner Autobiographie Beckers sexuelle Übergriffe zum Teil als einvernehmliche erotische Begegnungen hinstellt haben und die Glaubwürdigkeit der Opfer der sexuellen Gewalt in Frage gestellt haben (5.)

Die Erziehungswissenschaftlerin Hanna Kiper kritisiert, dass von Hentig jede Empathie mit den Opfern vermissen lasse, stattdessen die Täter des Missbrauchs verteidige und Mitleid mit deren seelischen Nöten einfordere. Er deute die Kritik an dem jahrelangen Missbrauch an der Odenwaldschule als sexualpolitischen Backlash, als „Hexenwahn“ bzw. „üppig wuchernde Verschwörungstheorien“ gegen die liberale Intelligenz. Sie resümiert:

„Wenn sich als Pädagogen verstehende Menschen dabei solche Argumentationsfiguren benutzen, die Täter sexueller Gewalt zur Leugnung oder Verteidigung ihres Handelns wählen und diese als ‚pädagogisch‘ ausgeben, ist ein entschiedenes Zurückweisen notwendig, auch um den Unterschied zwischen pädagogischem Denken und Handeln und dem Benutzen eines pädagogischen Jargons zur Verhüllung krimineller Absichten zu verdeutlichen.“

(6.)

Insofern müsse das Werk von Hentigs nun kritisch gesichtet werden. Ende.

Fazit

Wenn es, um noch einmal auf das Zitat bei der Stadt Flensburg zurückzukommen, heißt „Wir teilen den pädagogischen Grundsatz mit dem Pädagogen Hartmut von Hentig„, dann ist dieses zu kritisieren. Es stellt sich für den Verfasser des Blogs die Frage, warum der Name Hartmut von Hentig dort erscheint. Ob’s noch niemand wusste? Ok, nun wissen wir´s.

Quellen / Weiterführende Informationen

(1.) Die Kita liegt in der Johannisstraße, die wiederum liegt im Johannisviertel (siehe 2.) und ist benannt nach der Johanniskirche. Die Straße erhielt ihren Namen offiziell am 15. März 1881 zugesprochen.

(2.) Das Johannisviertel (auch: St. Johannis; dänisch Sct. Hans Kvarter) ist einer der vier ursprünglichen Siedlungskerne der Stadt Flensburg und gilt als Keimzelle des Stadtkerns von Flensburg. Als eigentliche, aber weniger bekannte Keimzelle der Stadt, gilt jedoch Adelby. Das Johannisviertel bildet heute einen Stadtbezirk, der im 20. Jahrhundert dem Stadtteil Jürgensby zugeordnet wurde.

(3.) Claudia Burgsmüller, Brigitte Tilmann: Abschlussbericht über die bisherigen Mitteilungen über sexuelle Ausbeutung von Schülern und Schülerinnen an der Odenwaldschule im Zeitraum 1960 bis 2010. 

(4.) Christian Füller: Odenwaldtäter beim Namen genannt. In: taz, 17. Dezember 2010

(5.) Hartmut von Hentig: Noch immer Mein Leben. Erinnerungen und Kommentare aus den Jahren 2005 bis 2015. Was mit Kindern, Berlin 2016.

(6.) Hanna Kiper: Im Zweifel für den Freund und Lebensgefährten. Der Angriff auf die Opfer und ihre Fürsprecher als Strategie der Verteidigung – Zur Auseinandersetzung mit Lebenserinnerungen des Hartmut von Hentig. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik 16 (2018) 1, S. 90–108, die Zitate S. 102 und 107.

ZUM SCHLUSS EINE BITTE: Der Betreiber trägt alle Kosten für dieses Projekt aus eigener Tasche. Falls Sie das Projekt unterstützen möchten, würde sich der Betreiber über eine kleine Spende freuen. Vielen Dank!

Autor: Willi Schewski

Fotograf. Blogger. Autor. Fotojournalist

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