Lichter gegen die Dunkelheit: Rechtsextreme stören Online-Vortrag in der Gedenkstätte Ahrensbök

Die Gedenkstätte Ahrensbök ist eine am 8. Mai 2001 gegründete Gedenkstätte in Ahrensbök in Schleswig-Holstein. Sie liegt in einem ehemals als „wildes KZ“ genutzten Gebäude – dem einzigen, das in Schleswig-Holstein erhalten blieb. Am 27. Januar 2022 haben mutmaßlich Rechtsextreme einen Online-Vortrag in der Gedenkstätte martialisch gestört. In diesem Blogbeitrag wird über den Vorfall berichtet sowie die Frage geklärt: wie wird Mensch zum Faschisten?

Martialisch auftretende Störer versuchten am Donnerstagabend den Online-Vortrag von Prof. Jörg Wollenberg* zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus zu torpedieren. Die Zoom-Veranstaltung der Gedenkstätte Ahrensbök musste, wie es in einer Pressemitteilung vom 28.1.2022 hieß, zweimal unterbrochen werden.

Sechs anscheinend rechtsextremen Tätern – sie benutzten keine Klarnamen – gelang es am Donnerstag, sich in die Zoom-Veranstaltung der Gedenkstätte Ahrensbök einzuwählen. Der Historiker und Zeitzeuge Jörg Wollenberg sprach zum internationalen Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus über den Todesmarsch von Auschwitz nach Holstein und die Bombardierung der Cap Arcona.

Nach etwa 30 Minuten wurden von den Mitgliedern der Neonazi-Gruppe neben Schmierereien auch Hakenkreuze in die Kameras gehalten, „Heil Hitler“-Rufe skandiert und im Hintergrund Aufnahmen von Neonazi-Aufmärschen gezeigt.

Gedenkstätten-Leiter Sebastian Sakautzki unterbrach die Zoom-Sitzung. Es gelang einem Teil der Störer jedoch, sich wieder einzuwählen und  Enthauptungsvideos zu zeigen.

Der Vortrag wurde unverzüglich erneut unterbrochen. Danach gelang es, die Täter fernzuhalten. Mit den verbliebenen Teilnehmern wurde der Vorfall besprochen.

Es ist eindeutig, dass die Aktion geplant und arbeitsteilig organisiert war“, wird zitiert Sebastian Sakautzki am Tag nach dem Vorfall. Er ist dankbar, dass Prof. Wollenberg sein Referat unbeirrt fortsetzen wollte. Auch seitens der Zuhörer, von denen einige so geistesgegenwärtig gewesen seien, Fotos von den Störer-Szenen zu machen, sei der Zuspruch, sich nicht einschüchtern zu lassen, groß gewesen.

Daniel Hettwich, Vorsitzender des Trägervereins, wird zitiert: „Diese Störaktion bleibt von uns nicht unwidersprochen. Wir werden sie anzeigen“. Dass die vermutlich Rechtsradikalen dieses historische Datum und den Vortrag eines Zeitzeugen als Plattform nutzten mache deutlich, wie wichtig die Arbeit in der Gedenkstätte sei.

Daniel Hettwich appelliert an die Zivilgesellschaft. „Ich bitte um breite Unterstützung. Wir brauchen Menschen, die sich zu unserem Engagement bekennen“.

Sebastian Sakautzki sei berührt von etlichen Mails mit Solidaritätsbekundungen, die nach dem Vorfall in der Gedenkstätte eingegangenen seien.  # Ende PM #

*Jörg Rüdiger Wollenberg (* 30. Januar 1937 in Ahrensbök, Ostholstein) ist ein deutscher Historiker, Erwachsenenbildner und Autor. Er war Hochschullehrer für Weiterbildung mit dem Schwerpunkt politische Bildung an der Universität Bremen und Direktor der Volkshochschulen in Bielefeld und Nürnberg. Und er ist Zeitzeuge:

Jörg Wollenberg wuchs in Ahrensbök auf, wo sein Vater als Müllermeister nach dem Krieg einen Landhandel gründete. Als Achtjähriger sah er am 12. April 1945 rund 300 KZ-Häftlinge durch Ahrensbök ziehen.

Die Kleinstadt in der Nähe von Lübeck lag am Ende eines dreimonatigen Marsches (KZ Fürstengrube-Todesmarsch), der von Auschwitz-Fürstengrube über Mauthausen und Nordhausen (Mittelbau-Dora) bis nach Ostholstein ging.

Ich stand an der Straße und sah diesen Elendszug“, schildert Wollenberg die Eindrücke, „ausgemergelte Gestalten schleppten sich mühsam fort – es waren Skelette von Menschen.“ (1).

Wollenberg sagt in einem NDR-Beitrag: „Im Freistaat Oldenburg, Landesteil Lübeck sind die Nazis schon ab 1932 als erste NSDAP-Alleinregierung in Deutschland an der Macht. Und sie können als Landesregierung Oldenburg gewissermaßen experimentieren, wie so was wie ne Machterschleichung vor sich geht und wie man die Einrichtung von Konzentrationslagern zustande kriegt„.

Wollenberg studierte später aufgrund dieser Erfahrung Auschwitz-Akten und ging individuellen Schicksalen nach.

Ein weiterer Zeitzeuge, Hans-Otto Mutschler, erzählt ein traumatisches Ereignis, das er als zehn-jähriger Junge miterlebte: „Direkt vor mir hat ein SS-Mann einen Häftling in den Kopf geschossen, weil der um einen Stock zum Aufstützen gebeten hat. Das alles hat mich die ganzen Jahre beschäftigt und es hat mich immer gewundert, dass das nie zum Thema in der Gemeinde gemacht wurde“ (Quelle: NDR).

Website Gedenkstätte: http://www.gedenkstaetteahrensboek.de

Wie wird Mensch zum Faschisten? Kommentar / Meinung:

Niemand wird zum Neonazi geboren, Faschismus ist eine in der Erziehung und Jugend erworbene Gesinnung; damit ist nichts entschuldigt aber zumindest erklärt. Der Verfasser beruht sich in seiner Einschätzung auf Expertisen des Kinderarztes, Wissenschaftlers und Autors Dr. med. Herbert Renz-Polster. Er schreibt:

Natürlich ist Erziehung eine sehr persönliche Angelegenheit. Einerseits. Andererseits aber bilden sich in diesem Rahmen auch die ersten Grundlagen unseres moralischen und politischen Denkens, Fühlens und Handelns. Kurz: Erziehung prägt Gesinnung! Wie wirkmächtig die Erfahrungen der Kindheit sind, beschreibe ich anhand eines prägenden politischen Phänomens unserer Zeit – dem Rechtspopulismus.

Erziehung prägt Gesinnung – 12 Thesen von Dr. med. Herbert Renz-Polster

  1. Unsere politischen Überzeugungen sind von unseren Kindheitserfahrungen nicht zu trennen: Erziehung prägt Gesinnung.
  2. Wer rechte Tendenzen verstehen will, muss deshalb auf die Kindheiten der politischen Akteure und ihrer Anhänger blicken.
  3. Das heisst nicht, dass soziale, ökonomische oder kulturelle Deutungsansätze belanglos wären – für sich allein aber können sie das Phänomen Rechtspopulismus nicht erklären. Erst der Faktor Erziehung schließt die Deutungslücke.
  4. Die allermeisten Anhänger rechtspopulistischer Parteien sind weder sozial abgehängt noch von ihrem Bildungsstand her benachteiligt. Vielmehr handelt es sich bei ihnen überraschend häufig um gut situierte Mittelstandsbürger, die in den immer gleichen äußeren Situationen auffällig werden.
  5. Diese Situationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Ängste um den Verlust von sozialer Anerkennung und Sicherheit auslösen können. Diese Ängste wurzeln tief in Kindheitserfahrungen .
  6. Tages- und zeitaktuelle Auslöser solcher Ängste sind vor allem gesellschaftliche Entwicklungen, welche die eigene Identität, bisherige Bedeutung und soziale Dominanz in Frage stellen. Beispiele sind die zunehmende Anerkennung vormaliger Randgruppen oder der Zuzug von Fremden. Im Zuge der Globalisierung und gesellschaftlichen Liberalisierung der letzten Dekaden haben diese Auslöser an Biss gewonnen.
  7. Ohne den Blick auf die unterschiedliche, historisch geformte Erziehungspraxis von Kindern in Ost- und Westdeutschland lässt sich der Erfolg der AfD in den neuen Bundesländern nicht erklären. Ebensowenig lässt sich das im Vergleich zu (West)deutschland massive Rechtsautoritarismus Problem Frankreichs ohne die Kenntnis der jeweiligen Kinderstuben verstehen. Von der Spaltung der USA in zwei politische Lager ganz zu schweigen.
  8. Die rechtspopulistische Haltung kann als lebenslang nachwirkende Sozialisationskrise verstanden werden: Erwachsene mit rechtspopulistischen Haltungen haben häufig verunsichernde Kindheiten erlebt, in denen sie eigene, innere Stärke nur schwer aufbauen konnten. Permanente Überforderungserfahrungen begründen eine lebenslange Abhängigkeit von äußerer Stärke und Autorität.
  9. Rechtsautoritäre empfinden deshalb alles als bedrohlich, was dieses Koordinatensystem infrage stellt
  10. seien es Eliten, die Presse oder andersdenkende Minderheiten.- Menschen, die in ihrer Kindheit ein tragfähiges Netz von emotionaler Sicherheit und Wertschätzung aufbauen konnten, sind auf solche Veränderungen und die damit verbundenen Stresserfahrungen besser vorbereitet. Wer sich von Anfang an als bedingungslos wertvoll und geliebt erfährt, ist widerstandsfähiger gegenüber der Verunsicherung, die der kulturelle Wandel oder die Andersartigkeit anderer mit sich bringt.
  11. Wer jedoch als Kind seine eigene Stimme und innere Sicherheit NICHT hat finden können, wird sein Heil in der „alten Ordnung“, in der Zugehörigkeit zu einer als überlegen fantasierten Gruppe und der Abwertung anderer suchen. Diese Suche wird nun zur neuen Selbstvergewisserung.
  12. Soll es in einer Gesellschaft menschlich zugehen, ist es unser aller Verantwortung, für eine menschliche Kindheit zu sorgen. Die Erfüllung der grundlegenden Entwicklungsbedürfnisse nach Sicherheit und Anerkennung sorgt dafür, dass Kinder mutig und offen in die Welt treten – und der autoritären Unterwerfung widerstehen können. Quelle: Blog Dr. med. Herbert Renz-Polster

Beitragsfoto: Von Genet, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15705954

Quelle (1): Artikel aus dem Aufbau-Deutsch-Jüdische Zeitung, New York, Nr. 21 vom 19. Oktober 2000.

Autor: Willi Schewski

Fotograf. Blogger. Autor. Fotojournalist

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