Zeitgeschichte: Unsere Dörfer – Niedergang und Aufbruch

Am 9.11.2021 lief in der ARD die Dokumentation „Unsere Dörfer – Niedergang und Aufbruch“. Es ging in dieser Doku um die sogenannte Flurbereinigung und Gemeindereform in der Bundesrepublik Deutschland.
In der Doku werden auch Beispiele aus Schleswig-Holstein gezeigt, wie die ehemalig geplante Hotelanlage direkt am Deich von Westerhever. 5000 Betten sollten dem „Ort übergestülpt werden“, heißt es. Weiter kommen die Orte Goldbek in Nordfriesland und Orte in Eiderstedt zur Rede

Der Niedergang war geplant. In den 1960er-Jahren galt das Dorf als rückständig und Verkehrshindernis. So lautete der Befund von Planern und Bürokraten aus den Städten. Traditionsreiche Fachwerkbauten in der Dorfmitte wurden abgerissen und machten Platz für sterile Neubauten und breitere Straßen.

Der Dorfplatz wurde zum Parkplatz. Statt Menschen begegneten sich Autos. Dann verschwanden Eichen, Dorf-Linden, Bäcker, Schuster und Tante-Emma-Laden. Vielerorts kam der Pfarrer auch nur noch alle drei Wochen zum Gottesdienst ins Dorf. Doch jetzt blühen manche Dörfer wieder auf. Wer verantwortete den Niedergang und wer sorgt jetzt für neue Hoffnung?

Zauberwort Flurbereinigung (1): Aus lebendigen Gemeinden wurden in den 1960er-Jahren verschlafene Dörfer. Verschont von den Bomben des Zweiten Weltkrieges wurden sie neu vermessen und flurbereinigt. Die Landwirtschaft sollte industrialisiert werden. Felder und Ackerflächen, zuvor im Streubesitz, wurden zu großen Flächen zusammengelegt.

„Butterberge“ & „Milchseen (3)“

Es profitierten meist die Bauern, die viel Land besaßen. Das gab Streit im Dorf. Die großen Höfe wuchsen und die kleinen gingen unter. Bis 1978 verschwanden eine Million Kleinbetriebe. Für die verbliebenen Bauern gab es wenig Risiko und wenig Marktwirtschaft. Denn der Sektor wurde hoch subventioniert.

Von Deutsche Fotothek‎, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7961869

Das führte zu einer enormen Überproduktion. Es entstanden die sogenannten Brüsseler „Butterberge“ und „Milchseen“ (3).

Zudem wurde planiert, über 90.000 Kilometer schnurgerade Straßen wurden gebaut und auf 40.000 Kilometern Bäche kanalisiert.

Auch aus diesem Grund gelten Bodenerosion und gefährliche Hochwasser heute als Folge der Flurbereinigung (2). Für große Ackerflächen wurden Hecken abgeholzt, dadurch Insekten und Vögel vertrieben.

Allein in Schleswig-Holstein verschwanden umgerechnet 28.000 Kilometer dieser sogenannten Knicks, grüne Wallhecken, die historisch gewachsen die Felder trennten.

In der DDR uniformierten Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften, LPGs, das ostdeutsche Äquivalent zum Großbauern. Dann wurden die Gemeinden reformiert und zusammengelegt. Viele kleine Dörfer hatten keinen Bürgermeister mehr. 16.000 Gemeinden verloren bis Ende der 1970er-Jahre ihre Eigenständigkeit. Rathäuser wurden geschlossen und kommunale Parlamente überflüssig, 300.000 Ortsvertreter nicht mehr gebraucht. Schulen geschlossen.

Gemeindereform = Relikt der NS-Zeit

Die Gemeindereform (2) entsprang der Idee des Zentralismus. Eine Übernahme aus der NS-Zeit. Die „Modernisierung“ der Dorfstraßen folgte Richtlinien für den Ausbau innerstädtischer Hauptstraßen. Viele Dörfer wurden in zwei Teile zerschnitten. Immer mehr junge Leute wurden Opfer von Verkehrsunfällen.

Die Denkmalschützenden begeisterten sich damals eher für Burgen und Schlösser, interessierten sie sich für historische Bauten im Dorf, machten maßlose Auflagen deren Erhalt vielerorts unmöglich.

Dorf-Linde und Kastanien fielen der Kettensäge zum Opfer. Es entstanden gesichtslose, mit Eternit verkleidete Bauten statt Fachwerk. Fertigbungalows wurden sogar im Quelle-Katalog angeboten.Kurz darauf verschwanden in den kleinen Orten dann auch Sparkasse, Post, und das Wirtshaus.

Renaissance der Dörfer

Jetzt werden Dorfkneipe und Laden in Freilichtmuseen wieder aufgebaut: Erinnerungskultur. Was nach der Flurbereinigung und der Gemeindereform plattgemacht wurde, hat wieder eine Zukunft. In einigen Dörfern geht es langsam wieder aufwärts.

Bewohnerinnen und Bewohner setzen auf Gemeinsinn und schaffen in Eigenregie Dorfläden und locken junge Familien an. Wo es schnelles Internet gibt, lockt die Wohnungsknappheit sogar wieder die Jugend in manches totgesagte Dorf.“ ## Ende Text ARD ##

Begriffsbestimmung

(1) Flurbereinigung (auch Flurneuordnung oder ländliches/landwirtschaftliches Neuordnungssystem) nennt man in Deutschland das Bodenordnungsverfahren, das die Neuordnung des land- und forstwirtschaftlichen Grundbesitzes zum Ziel hat. Das entsprechende Verfahren bei Baugebieten nennt sich Umlegung. (Quelle: Land SH)

(2) Gemeindereform / Gebietsreform: Unter Gebietsreform (auch Kommunale Neugliederung; englisch local government reorganization) versteht man in den nationalen Kommunalrechten eine großflächige und nicht lediglich auf Nachbargemeinden beschränkte Reform, die innerhalb einer mittleren Verwaltungsebene die untergeordneten tangiert.

Zwischen 1967 und 1978 reduzierten die Länder der Bundesrepublik die Zahl ihrer Gemeinden. Dies wurde teils durch Vereinbarungen zwischen den Gemeinden auf freiwilliger Basis, das heißt die Gemeinden entschieden, in welcher Weise sie künftig zusammenarbeiten wollten, teils durch Hoheitsakte erreicht.

Während in einigen Ländern Eingemeindungen und Gemeindezusammenschlüsse vorherrschten, wurden in Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein neue Gemeindezusammenschlüsse auf einer Zwischenstufe errichtet (Samtgemeinden, Verbandsgemeinden, Ämter).

So veränderte die Reform Schleswig-Holstein:

Nördlich von Hamburg wurden zum 1. Januar 1970 die schleswig-holsteinischen Gemeinden Garstedt und Friedrichsgabe (beide Kreis Pinneberg) mit Harksheide und Glashütte (beide Kreis Stormarn) zur neuen Stadt Norderstedt zusammengefasst und dem Kreis Segeberg zugeordnet.

Dabei entstand die fünftgrößte Stadt Schleswig-Holsteins, die schon damals mit über 50.000 Einwohnern wesentlich größer als die Kreisstadt Bad Segeberg war.

Oldenburg war von 1867 bis 1970 Kreisstadt des Kreises Oldenburg in Holstein. Im Zuge der Kreisreform im Jahr 1970 wurde dieser mit dem Kreis Eutin zum Kreis Ostholstein fusioniert.

Außerdem wurden am 1. März 2008 die Gemeinden Handewitt und Jarplund-Weding (Kreis Schleswig-Flensburg) zur neuen amtsfreien Gemeinde Handewitt

sowie die Gemeinden Raisdorf und Klausdorf (Kreis Plön) zur neuen Stadt Schwentinental zusammengefasst.

Am 1. Januar 2009 schlossen sich die Stadt Westerland sowie die Gemeinden Sylt-Ost und Rantum zur neuen Gemeinde Sylt zusammen (alle Kreis Nordfriesland).

Proteste

Diese Reform führte bei den Menschen zu Protesten, besonders in Bayern gab es Bürgerinitiativen, die bekanntestes war in Ermershausen (über den Fall wird auch in der Doku berichtet): Einige Berühmtheit erlangte 1978 das Dorf Ermershausen mit etwa 800 Einwohnern im Landkreis Haßberge.

Es widersetzte sich vehement der Eingliederung in die Gemeinde Maroldsweisach. Das gipfelte in einer Besetzung des Rathauses und der Errichtung von Barrikaden durch Bürger von Ermershausen mit dem Zweck, die Verlegung der Gemeindeverwaltung nach Maroldsweisach zu verhindern.

Das Dorf wurde schließlich von mehreren Hundertschaften der Bereitschaftspolizei gestürmt und das Rathaus geräumt. 1994 wurden Ermershausen und vier weitere Gemeinden jedoch wieder selbständig.

Die Gemeinde Horgau erreichte durch ein Urteil des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes 1983, dass die Eingemeindung nach Zusmarshausen aufgehoben wurde.

(3) Zum Thema Butterberg & Weihnachtsbutter

Der Butterberg ist eine Bezeichnung für die ständige Überproduktion von Butter in Westeuropa seit Ende der 1970er-Jahre bis 2007 aufgrund staatlicher Eingriffe.

Um die Bestände zu verringern, wurde in der Bundesrepublik Deutschland über mehrere Jahre, zuletzt 1985, im Dezember die so genannte Weihnachtsbutter verkauft. Dies erfolgte auf Anweisung des Bundesernährungsministeriums.

Die Butter wurde zunächst (z. B. 1979) um 50 Pfennig, später um 70 Pfennig, pro 250 Gramm günstiger angeboten. Damit sollte der Preis unter der Schwelle von 2 DM bleiben. (Quelle:  AGRARMARKT: Alles in Butter. In: Der Spiegel, 10. September 1979. Abgerufen am 15. September 2017. )

Die Abgabe war auf vier Pakete je Familie begrenzt. Die 250-Gramm-Pakete trugen die Aufschrift „Molkereibutter aus Interventionsbeständen“. Interventionsbestände sind durch staatlich garantierte Abnahme von Agrarprodukten entstandene Lagerbestände. Die Weihnachtsbutterverkäufe trugen geringer als geplant zum Abbau des Butterberges bei.

Quellen:

Link zur ARD-Sendung: „Unsere Dörfer – Niedergang und Aufbruch„

Foto: Sonnenuntergang im Westerheversand im Ramsar-Gebiet S-H Wattenmeer und angrenzende Küstengebiete sowie im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer. Von Matthias Süßen – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=78937692

Foto: Butterberg: Kurt Krause beim Stabeln von 50 Kilo Butterfässern des VEB Kühlhaus und Eiswerke. Von Deutsche Fotothek‎, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7961869

Autor: Willi Schewski

Fotograf. Blogger. Autor. Fotojournalist

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