Flensburg: Kreuzaktion „Opfer der Agenda 2010“

Hartz-IV-Empfänger sollen Ratten jagen“, Henner Schmidt, FDP Fraktionsvize

Vor 6 Jahren, am 31. August 2015, fand statt auf dem Flensburger Südermarkt eine spektakuläre Ausstellung: „Kreuzaktion Opfer der Agenda 2010″. Aus- bzw. aufgestellt wurden auf dem feuchten Pflastersteinboden des Marktes 60 Kreuze als Systemkritik (siehe obiges Beitragsbild). Oberhalb der Treppe von St. Marien wurde ein Banner aufgehängt, dieses hatte die Aufschrift „In Gedenken an die Opfer der Agenda 2010“

Auf einem der 60 Papp-Kreuzen stand angebracht auf einem gelben Blatt Papier dieser Text: „Silvia W. (39) aus Oberbayern verliert ihren Arbeitsplatz, kann monatelang die Miete nicht zahlen, der Mutter eines dreijährigen Sohnes droht die Zwangsräumung. Am 25. Juni 2006 erdrosselt sie ihr Kind, stürzt sich tags darauf in den Tod aus dem Fenster des achten Stocks

Politiker-Zitate

Weiter stand auf dem Südermarkt ein in die Jahre gekommener Ford-Transporter. Dieser war plakatiert mit diversen ca. DIN-A4 großen eingeschweißten Papierblätter, auf diesen standen Politiker-Zitate wie obiges Beispiel und weitere:

„Nur wer arbeitet soll auch essen.“, Zitat Ex-SPD Arbeitsminister Franz Müntefering.

„Hartz-IV-Empfänger können Hundekot aufsammeln und Hundekontrolleure werden“, Zitat Claudia Hämmerling (Grüne).

„Finanznot ist nicht das zentrale Problem der Hartz- IV-Empfänger, sondern ihr übermäßiger TV-Konsum, ihre Wortarmut und ihre Fettleibigkeit!“ Zitat Tilo Sarazzin (SPD).

„Den Inaktiven und Versorgungs- empfängern sollte man das Wahlrecht aberkennen.“, Zitat Ex-Parteisprecher Konrad Adam (AfD)

„Fußfesseln für Hartz-IV- Empfänger, um deren Verhalten, Pünktlich- keit etc., bei einem neuen Job kontrollieren zu können.“, Zitat Dr. Christian Wagner, ehemaliger Hessischer Justizminister.

Wer macht das?

Initiatoren der Aktion waren der in Ost-Berlin (DDR) aufgewachsene und Berlin (West) lebende Berufsaktivist Michael Fielsch (Jg. 1965) sowie die aus Baden-Württemberg stammende und in Berlin lebende Einzelhandelskauffrau Sabine Niemann (damals 32).

Beide wollten damit den Verlierern der Hartz-IV-Reform gedenken und die Menschen zum Nachdenken bringen. Und sie verfolgen ferner das Ziel, dass die Menschen durch ihre Kreuz-Projekte ihr Konsumverhalten ändern.

Michael Fielsch, beruflich qualifiziert als Fahrzeugschlosser für Schienenfahrzeuge und Telekommunikationselektroniker, ist seit seinem 50 Lebensalter berentet. Mit der Berentung habe er seine Würde wiedergewonnen. Diese hätte aber auch Schattenseiten. So musste er sich deshalb den Vorwurf als Schmarotzer gefallen lassen.

Vor seiner Verrentung habe er sich immer wieder um Jobs bemüht. Doch niemand sei bereit gewesen, ihm mindestens „1500 Euro netto für 20 Stunden in der Woche“ zu zahlen. Fielsch gelang durch Präsenz in Funk und Fernsehen eine gewisse Bekanntheit.

Wie kam die Aktion beim Publikum an?

Die Kreuze auf dem Südermarkt weckten Neugierde, Zustimmung oder Ablehnung, einige Passanten schlugen einen Bogen um die Kreuze oder blieben stehen und lasen die Texte. Die Aktion hätte 90 Prozent Zustimmung erfuhren, wollte Michael Fielsch erfahren haben.

Der Rest hätte en passant kritisiert und hätte sich auf Diskussionen nicht erst eingelassen. Dabei gäbe es auch über die ausgestellten Politiker-Zitate sicher einiges zu reden.

Hier ein paar Stimmen; 1. Michael Fielsch:

Eine Passantin:

Zur Begriffsbestimmung: Was ist die Agenda 2010?

Die Agenda 2010 ist ein Konzept zur Reform des deutschen Sozialsystems und Arbeitsmarktes, das von 2003 bis 2005 von der aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen gebildeten Bundesregierung (Kabinett Schröder II) weitgehend umgesetzt wurde.

Die Bezeichnung Agenda 2010 verweist auf Europa. So hatten die europäischen Staats- und Regierungschefs im Jahr 2000 auf einem Sondergipfel in Portugal beschlossen, die EU bis zum Jahr 2010 nach der sogenannten „Lissabon-Strategie“ zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen.

Die Inhalte der Agenda 2010 decken sich jedoch nur begrenzt mit denen der Lissabon-Agenda, die auf die Förderung von Innovation, der Wissensgesellschaft und der sozialen Kohäsion ( = innerer Zusammenhalt) abzielte. Die Agenda 2010 sollte vor allem einen Schritt zur Bewältigung der Arbeitsmarktprobleme und des sich abzeichnenden demografischen Wandels in Deutschland darstellen.

Nachtrag: Stand 2021 Hartz IV und Sanktionen: Urteil des Bundesverfassungsgericht 2019

Kürzungen von Leistungen nach § 31 SGB II bei Pflichtverletzungen seitens der Betroffenen sind vom Bundesverfassungsgericht im November 2019 für teilweise verfassungswidrig befunden worden. Bei Verstößen sei eine Absenkung der Leistungen zwar möglich, jedoch sei die bisherige Ausgestaltung nicht verfassungskonform, urteilte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) im November 2019 (AZ: 1 BvL 7/16).

Die bisher möglichen Abzüge bei Verletzung um 30 Prozent seien zulässig, während darauffolgende noch härtere Sanktionen bei wiederholten Pflichtverletzungen um 60 oder sogar 100 Prozent nicht mehr verhältnismäßig und daher mit dem Grundgesetz unvereinbar seien.

Das Gericht lehnte auch die starre Frist der Absenkung für drei Monate ab. Wenn der Betroffene seinen Mitwirkungspflichten wieder nachkommt, müsse es möglich sein, die vollen Leistungen auch zu einem früheren Zeitpunkt wieder zu erhalten. Zudem müssten Härtefälle stärker berücksichtigt werden können; das war bis dahin gar nicht möglich. Das Urteil geht zurück auf eine Vorlage des Sozialgerichts im thüringischen Gotha.

Bis zu einer gesetzlichen Neuregelung ordnete das Verfassungsgericht an, dass alle Abzüge auf maximal 30 Prozent zu beschränken seien. In Härtefällen sei auf Leistungskürzungen zu verzichten.

Die Entscheidung betrifft nicht alle möglichen Sanktionen nach dem SGB II, sondern nur solche, die wegen einer Pflichtverletzung nach § 31 SGB II erteilt werden, nicht jedoch Kürzungen wegen Meldeversäumnissen (das waren über 77 Prozent aller Sanktionen im Jahr 2018) oder Regelungen für Personen unter 25 Jahren.

Literatur: Die Hartz-IV-Diktatur. Eine Arbeitsvermittlerin klagt an (Link)

Weiterführende Informationen: Website von Inge Hannemann (Link)

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